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Türkei zwischen Ost und West (3/5)
Unser Bruder Tayyip

Im Istanbuler Viertel Kasimpasa dominieren Männer das öffentliche Leben. Das war schon so, als ein gewisser Recep Tayyip Erdogan hier aufgewachsen ist. Und das soll auch so bleiben, findet Sevinc. Sie hilft nur ausnahmsweise im Laden ihres Vaters aus. Frauen sollten nicht arbeiten, meint sie.

Von Luise Sammann | 04.01.2018
    Der Istanbuler Stadtteil Kasimpasa, in dem Recep Tayyip Erdogan aufwuchs
    Der Istanbuler Stadtteil Kasimpasa, in dem Recep Tayyip Erdogan aufwuchs (AFP / Ozan Kose)
    Ein lautes Rufen kündigt Kundschaft an. Sevinc rennt aus ihrem mit Süßigkeiten, Lebensmitteln und Haushaltsbedarf vollgestopften Tante-Emma-Laden, hält dabei mit einer Hand das türkise Kopftuch unter dem Kinn zusammen. Eine alte Nachbarin lehnt im gegenüberliegenden Haus aus dem Fenster im obersten Stock, lässt laut rufend ihren Einkaufskorb an einem Seil herunter.
    Sevinc eilt zurück, steht wenige Sekunden später wieder im Laden. Eier, Brot, Oliven, Schokoaufstrich und ein paar Schwämme landen im Korb der Nachbarin. Dazu noch eine Packung Taschentücher. Der Service für die alte Frau von gegenüber ist selbstverständlich kostenlos.
    "Wir leben in guter Nachbarschaft hier, jeder kennt sich. Wir besuchen uns, wir kümmern uns, wenn einer krank oder traurig ist … In Kasimpasa geht es zu wie in einer türkischen Familie. Und ich hoffe, dass das immer so bleiben wird."
    "Am Ende leben wir alle nach Gottes Regeln"
    Sevinc unterbricht sich, kritzelt den Rechnungsbetrag der Nachbarin in ein kleines blaues Notizbuch neben der Kasse. Fast jeder im Viertel schreibt bei ihr an, zahlt, wenn er gerade Geld hat. Fremde gibt es ja sowieso nicht in Kasimpasa. Und Betrug unter Nachbarn? Sevinc winkt ab.
    "Die Leute hier sind konservativ. Manche beten fünf Mal am Tag, manche nicht. Manche fasten im Ramadan, manche nicht. Das hält jeder wie er will. Aber am Ende leben wir alle nach Gottes Regeln."
    Fußgänger in Kasimpasa
    Fußgänger in Kasimpasa (AFP / Daniel Mihailescu)
    Und das, ist Sevinc überzeugt, sorgt dafür, dass die Bewohner von Kasimpasa besonders glücklich und zufrieden sind. Streit gebe es hier kaum, verspricht sie. Weder zwischen den Nachbarn, noch innerhalb der Familien, die hier seit Generationen eng zusammenleben. Kinder, Eltern, Tanten, Onkel, Großeltern oft im selben Haus.
    "Die Regeln Gottes sind wunderbar. Er sagt: Im besten Fall versorgt der Mann die Familie mit Geld, und die Frauen kochen und erziehen die Kinder. Solange sich alle daran halten, gibt es auch keine Probleme. Ich selbst bin seit neun Jahren verheiratet und hatte noch nie Streit mit meinem Mann."
    Ein starker Führer für Familie und Staat
    Dass Sevinc im Laden ihres fast 90-jährigen Vaters aushilft, ist eine Ausnahme. Und so, das findet sie selbst, sollte es auch bleiben:
    "Wir Frauen sind ganz einfach nicht so stark wie die Männer. Wir können nicht arbeiten wie sie. Und glauben sie mir, die meisten Frauen wollen das auch gar nicht. Es geht ihnen besser zu Hause."
    Tatsächlich stehen außer Sevinc nur Männer in den Geschäften und Handwerksstuben von Kasimpasa. Die wenigen Frauen, die um diese Tageszeit durch die steilen Gassen eilen, tragen Kopftuch und lange Röcke wie Sevinc, ziehen kleine Kinder oder Einkaufstaschen hinter sich her. In ein Mikrofon sprechen möchte keine von ihnen.
    Im Teehaus an der Ecke sitzen wie jeden Tag ein Dutzend Männer bei Neonlicht und zuckrigem Cay beisammen, vertieft in die Fußballzeitungen oder eine Partie Backgammon.
    Mahmut, ein Rentner mit buschigen Augenbrauen und dickem Bauch, erklärt gern, wie das Leben in Kasimpasa seit Generationen funktioniert.
    "Eine Frau kümmert sich bei uns um die Kinder. Der Vater aber ist das Familienoberhaupt, dem um jeden Preis gehorcht wird. Er arbeitet und hält die Familie zusammen. Dafür verdient er den größten Respekt. So, wie ein Staat einen starken Führer braucht, so ist das auch bei einer Familie."
    Mustafa lebte in Berlin und weiß: Europäer will er nicht sein
    Mustafa, ein Automechaniker mit kräftigen ölverschmierten Händen, selbst Vater von fünf Kindern, nickt zustimmend:
    "In unserem Viertel kann keiner einfach seinem Vater widersprechen. Selbst, wenn er es wagen sollte, würden die Menschen rundherum sofort eingreifen. Sie würden ihn warnen und zurechtweisen."
    Mustafa hat drei Jahre in Berlin gelebt, bevor er nach Kasimpasa zurückgekommen ist. Aus Heimweh, wie er sagt. Und mit dem unbedingten Gefühl, dass er kein Europäer ist, oder besser: kein Europäer sein will.
    "Die Art sich zu kleiden, die Art sich draußen zu bewegen, der fehlende Respekt vor den Älteren…. Alles dort ist anders. Bei uns aber herrschen klare gesellschaftliche Regeln, wie zum Beispiel die, dass in ein Teehaus wie dieses keine Frauen gehören. In Deutschland können Frauen sogar Billard spielen gehen! Aber hier, in unserer Kultur, geht das nicht. Und das hat keine religiösen Gründe, sondern es ist einfach das, was wir von klein auf gelernt haben und womit wir uns wohlfühlen."
    In Kasimpasa sind die Rollen klar verteilt und das Leben übersichtlich. So erzählen und schätzen es Anwohner.
    In Kasimpasa sind die Rollen klar verteilt und das Leben übersichtlich. So erzählen und schätzen es Anwohner. (AFP / Daniel Mihailescu)
    Von der nahegelegenen Moschee ruft über den scheppernden Lautsprecher der Muezzin herüber. Mustafa, Mahmut und ein paar andere Teehausgäste machen sich auf den Weg zum Mittagsgebet.
    Auch das Mittagsgebet in der Moschee ist Männersache
    Auch viele Händler aus den Gassen rundherum schließen ihre Läden und schlendern zur Moschee. Nur die Tür von Sevincs Tante-Emma-Laden am oberen Ende der Gasse bleibt offen. Genau wie das Teehaus ist auch das Mittagsgebet in der Moschee Männersache. Eine der vielen Regeln in Kasimpasa, die Sevinc und den anderen Bewohnern Orientierung geben und spätestens seit Präsident Erdogan auch Selbstvertrauen.
    "Es heißt immer, wir rücken jetzt näher an Europa heran. Ich halte davon nichts. Schauen wir doch lieber auf unseren Präsidenten, unseren Bruder Tayyip. Der wuchs in diesen Gassen mit dieser Kultur auf. Und seht, wo Gott ihn hingebracht hat. Heute ist er ein Führer."