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Türkische Graffiti-Künstlerinnen
Sprühen für Frauenrechte

Ausschließlich Künstlerinnen hat das "Istanbul Comics and Art"-Festival in diesem Jahr die Graffitis anvertraut. Das ist durchaus als Protest gemeint. Denn es sei derzeit in der Türkei nicht nur schwierig, Straßenkunst zu machen, so die Festival-Kuratorin Asena Hayal, sondern generell "eine Frau zu sein".

Von Kristina Karasu | 07.09.2018
    Auf dem Bild ist die Künstlerin Gamze Yalçın zu sehen. Sie lächelt in die Kamera und hält eine Sprühdose in der Hand. Rechts von ihr ist ein Graffiti zu sehen, an dem sie gerade arbeitet.
    Für Gamze Yalcin ist es eine Herausforderung, als Frau und Künstlerin auf türkischen Straßen präsent zu sein (Kristina Karasu)
    Aus den Fenstern wachsen Zweige, der Eingang ist zugemauert. Eine Ruine in Galata im Zentrum von Istanbul, eingeklemmt zwischen einem schäbigen Wohnheim für Arbeiter und einem schicken Designerladen. Diese Ruinenfassade hat sich Gamze Yalçın für ihr neuestes Graffiti ausgesucht: darauf lugt ein Frauengesicht durch einen Torbogen, ihr Auge löst sich in blätterartige Formen auf. Daneben rollen pinke und türkise Wellen über die Mauer. Mit jedem Graffiti will sie ihre Heimatstadt lebenswerter machen, so die 31-jährige Künstlerin:
    "Selbst das kleinste Bild, das ich erschaffen kann, fügt der Stadt Farbe hinzu und gibt den Leuten Hoffnung. Das ist wohl der Hauptgrund für meine Straßenmalerei: diese gigantische Stadt mit 20 Millionen Einwohnern, die ständig wächst und keine Grenzen mehr besitzt, mit Farbe zu berühren. Und die, die dem Bild begegnen, zu inspirieren."
    Graffiti-Kunst: in der Türkei eine relativ junge Disziplin
    Gamze Yalçın ist eigentlich Innenarchitektin, nach ihrem Studium nahm sie 2010 an einem Sozialprojekt auf den Philippinen teil. Dort kam sie zum ersten Mal mit Wandmalerei in Berührung. Begeistert entschied sie, dies zu ihrem Beruf zu machen. Erst bemalte Yalçın Innenwände, dann wagte sie sich nach draußen. Mittlerweile besprüht sie riesige Mauern, wird für ihre Arbeit nach Berlin oder Madrid geladen. Ab heute wird sie auf dem Istanbul Comics and Art Festival mit drei anderen Künstlerinnen neue Werke kreieren. Graffiti-Kunst ist in der Türkei eine relativ junge Disziplin und türkische Graffiti-Künstlerinnen sind erst recht rar, erklärt Festival-Kuratorin Asena Hayal.
    "Wir durchlaufen derzeit eine Phase, in der es sehr schwierig ist, in der Öffentlichkeit Kunst zu produzieren. Für eine Frau ist es noch schwieriger – sowohl auf der Straße präsent zu sein, als auch auf der Straße Kunst zu betreiben. Schon aus Sicherheitsgründen. Generell eine Frau zu sein, ist derzeit schwer. Deswegen haben wir die Graffitis des Festivals diesmal ausschließlich Frauen anvertraut."
    Gewalt gegen Frauen hat zugenommen
    Die islamisch-konservative Regierung des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan propagiert ein rückschrittliches Frauenbild. Die Gewalt an Frauen hat in den letzten Jahren zugenommen. In sehr konservativen Stadtteilen Istanbuls sieht man kaum Frauen auf der Straße, und wenn dann tragen sie meist Kopftuch und versuchen kein Aufsehen zu erregen. Aber es gibt auch das andere Istanbul: in den westlich orientierten Stadtteilen im Zentrum können Frauen sich auch nachts unbehelligt auf der Straße aufhalten, Hotpants tragen – oder eben Graffitis sprühen. Spätestens seit den regierungskritischen Gezi-Protesten sind diese Viertel übersäht mit Graffitis. Künstlerin Yalçın arbeitet dort entspannt:
    "Ich frage meistens bei den Anwohnern nach einer Genehmigung. Die meisten Leute freuen sich darüber, sagen sogar oft: fang sofort an zu malen! Während meiner Arbeit bieten die Anwohner mir ständig etwas an, einmal haben sie sogar in einem Körbchen Tee aus einem Fenster gehangelt. Sie sind extrem hilfsbereit, ich habe noch nie Probleme erlebt."
    Wachsende Zensurvorschriften
    Allerdings passtt Yalçın genau auf, was sie malt. Politische und kritische Wandgemälde waren zu Gezi-Zeiten noch möglich – heute sind sie es angesichts wachsender Zensurvorschriften nicht mehr. Auch nackte Figuren wagt sie nicht zu malen, in der türkischen Öffentlichkeit ist das ein No-Go. So versucht sie die Grenzen des Möglichen einzuhalten und ihre Botschaften zu Themen wie Umweltschutz oder Städtewandel neutral zu verpacken. Zugleich motiviert sie junge Frauen zur Graffitikunst:
    "Die junge Generation – insbesondere seit Gezi, ist sehr stark, aktiv und innovativ. Ich gebe Graffiti-Workshops und fast alle Teilnehmerinnen sind junge Mädchen zwischen 12 und 15 Jahre. Sie sind extrem neugierig."
    Yalçıns Graffiti beim Istanbul Comics and Art Festival wird sich mit weiblicher Identität und Solidarität auseinandersetzen. Sie weiß – in der Türkei sind die Freiheiten, auf der Straße Kunst zu erschaffen und als Frau präsent zu sein zwei Seiten einer Medaille.