Donnerstag, 25. April 2024

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Türkische Kulturszene vor dem Verfassungsreferendum
"Es ist eine Art Picture-Bombing"

Den Wahlkampfplakaten des Erdogan-Lagers kann man auf Istanbuls Straßen nicht entfliehen, berichtet Korrespondentin Luise Sammann im DLF. Während die Bevölkerung tief gespalten ist, fürchten viele Kulturschaffende um die Freiheit der Kunst. Viele schweigen über Politik.

Luise Sammann im Gespräch mit Adalbert Siniawski | 10.04.2017
    Menschen gehen vor einem riesigen Poster des türkischen Präsidenten Erdogan am 06.04.2017 in Istanbul
    Plakatwerbung für das Verfassungsreferendum in der Türkei (AFP PHOTO / BULENT KILIC)
    Adalbert Siniawski: Seit dem Putschversuch Mitte 2016 greift Präsident Erdogan gegen die Gülen-Bewegung durch. Dort vermutet er die Drahtzieher hinter dem geplanten Umsturz. Tausende Soldaten, Anwälte, Professoren und Lehrer wurden entlassen - Journalisten inhaftiert. Und mit dem Verfassungsreferendum am kommenden Sonntag könnte Erdogans Macht gegenüber dem Parlament noch weiter wachsen, wenn die Mehrheit mit Ja stimmt. Die Bevölkerung ist aber tief gespalten und dies lässt auch die türkische Kulturszene nicht unberührt. Viele Kulturschaffende, die sich für eine liberale und offene Türkei einsetzen, befürchten, noch mehr ins Visier des Staates zu geraten. Luise Sammann - zugeschaltet aus Istanbul - Sie haben Menschen auf dem derzeit laufenden Filmfestival in Istanbul und Fotografen bei den Aufmärschen getroffen. Welche Stimmung nehmen Sie in der Kulturszene wahr?
    Große Frustration und wachsende Mutlosigkeit bei Künstlern
    Luise Sammann: Also in der Kulturszene in Istanbul herrscht im Moment - aber eigentlich muss man sagen, schon seit Monaten, wenn nicht gar Jahren - eine große Frustration, eine wachsende Mutlosigkeit. Eigentlich kann man sagen, seit diesen Gezi-Protesten im Jahr 2013, wo ja diese wahnsinnige Energie zu spüren war in Istanbul, in der ganzen Türkei - und das ist Stück für Stück danach zusammengebrochen und wirklich großem Frust gewichen. Die Kulturschaffenden sehen immer weniger noch einen Weg, um sich wirklich kritisch zu äußern, um noch spannende Projekte zu machen, weil immer mehr Leuten auch der Mut fehlt, und das ganze sich dann in so ein Unpolitisches, in Ausweich-Themen und Ausweich-Manöver hin entwickelt. Man sieht auf dem aktuellen Istanbul Filmfestival ganz gut, wie unpolitisch das Programm dort eigentlich ist für ein Land, das derart politisiert ist.
    Siniawski: Wir das auch so gesehen und reflektiert und bedauert oder ist man da einfach in so einem Mainstream?
    Vor dem Referendum in Istanbul: Nur wenige Touristen vor der Hagia Sofia.
    Wahlwerbung vor dem Referendum in Istanbul (Deutschlandradio / Renardo Schlegelmilch)
    Sammann: Nein. Viele Künstler, mit denen ich hier spreche - gerade jetzt habe ich mit Filmschaffenden im Rahmen des Istanbul Filmfestivals gesprochen - die sehen das genau so. Die sagen wirklich: Wir haben ein Problem, wir werden immer unpolitischer. Aber man kann es - ganz ehrlich - den Leuten hier auch nicht so richtig übel nehmen, in einem Land, in dem man sieht, dass jeder, der zum Beispiel "Nein" sagen will bei diesem am Sonntag anstehenden Referendum, ganz schnell als Terrorist, als Vaterlandsverräter, als Putsch-Unterstützer hingestellt werden kann. Da ist es eben so, dass viele Leute sich dann lieber auf unkritische Themen, unverfängliche Themen zurückziehen, weil nicht jeder automatisch mit jeder Aussage ein Held sein möchte, vielleicht.
    Erdogan mit Soldatenmontur, Pistole und Hubschraubern auf Plakaten
    Siniawski: Die Anhänger Erdogans und die der Oppositionsparteien HDP und CHP gehen zu Tausenden auf die Straße, um für ein "Ja" beziehungsweise "Nein" zu werben. Eine Fotoagentur hat das ja ganz gut dokumentiert. Und auf einem Plakat der Erdogan-Unterstützer sieht man den Präsidenten in Soldatenmontur, mit Pistole in der Hand, um ihn herum kreisen Hubschrauber. Ein Plakat wie aus einem Action-Blockbuster-Film. Ist diese popkulturelle Inszenierung, nenne ich das mal, - Superheld, Kämpfer - ein beliebtes Mittel, um Erdogans Bild als Macher zu verstärken?
    Sammann: Auf jeden Fall. Also nicht unbedingt im popkulturellen Sinne, aber dieses Bild von Erdogan, dem großen Kämpfer, dem Helden, das ist ganz, ganz wichtig. Das ist eigentlich das Hauptmotiv der ganzen Kampagne des Erdogan-Lagers hier im Moment. Diesen großen, starken Führer. Und dann gleichzeitig, dass man Feindbilder aufbaut, dass man den Menschen hier das Gefühl vermittelt, die ganze Welt hat sich gegen die Türken verschworen. Also das sind alles solche Dinge, um dem entgegen Erdogans Figur als Retter, als Held zu positionieren und zu sagen: Leute, ihr müsst jetzt Erdogan eure Stimme geben, denn nur er, nur dieser starke Führer, kann uns gegen diese boshafte Welt um uns herum noch verteidigen.
    Ich habe auch mit Fotografen gesprochen von der Fotoagentur Nar hier in Istanbul. Die haben eine Fotoserie gemacht zu diesen Wahlkampfveranstaltungen, die hier im Moment stattfinden und einfach beide Seiten dokumentiert. Und der Fotograf Mehmet Kaçmaz, der diese Fotoserie organisiert oder geschossen hat, sagte noch mal, das ist wirklich eine Art Voice-Bombing und Picture-Bombing, so nannte er das. Also dass man dem wirklich überhaupt nicht entfliehen kann, sobald man einen Fuß auf die Straße setzt in Istanbul momentan. Und er hat gleichzeitig gesagt, dass es für sie bei dieser Arbeit fast schwierig war, das "Nein"-Lager zu finden, einfach weil das "Ja"-Lager derart dominant ist und in vielen Stadtteilen alles voll ist mit dieser Erdogan-Propaganda, dass man richtig suchen muss. Oder in bestimmte, eher liberale Stadtteile gehen muss, um auch Stände oder Zelte des "Nein"-Lagers zu finden. Das heißt, man wird von allen Seiten damit wirklich bombardiert. Und das wirkt natürlich bei vielen Menschen.
    Biografie Erdogans im Kino gefloppt
    Siniawski: Vor wenigen Wochen auch bombardiert bzw. inszeniert im Kino - da kam der autobiografische Film "Reis" in die türkischen und auch deutschen Kinos. Er zeigt den Aufstieg von Erdogan vom armen Jungen vom Bosporus zum Bürgermeister in Istanbul und Staatsmann. Welchen Einfluss hatte dieser Film in der Kampagne?
    Der türkische Schaupsieler Reha Beyoglu, der in dem Film "Reis" (Der Chef) den heutigen türkischen Staatspräsidenten Erdogan verkörpert, posiert am 02.03.2017 in Istanbul, Türkei.
    Der türkische Schaupsieler Reha Beyoglu verkörpert in dem Film "Reis" (Der Chef) den heutigen türkischen Staatspräsidenten Erdogan. (dpa / Linda Say)
    Sammann: Dieser Film ist - ehrlich gesagt - völlig untergegangen in der Türkei. Das ist ganz interessant, denn der war lange, lange angekündigt worden. Plötzlich hieß es dann, dieser Film wird verschoben und es ging nicht so richtig los, Interviews waren auch nicht möglich. Und dann kam er plötzlich und ging völlig unter, ist absolut gefloppt hier in der Türkei. Kein Mensch hat den gesehen. Höchstens dann in den sozialen Medien so ein bisschen, um sich über das Erdogan-Lager lustig zu machen, haben das einige Erdogan-Kritiker genutzt, diesen gefloppten Film. Aber ansonsten hat der keinerlei Rolle gespielt in dem Wahlkampf.
    Siniawski: Luise Sammann über die Reaktionen in der Kulturszene auf das kommende Verfassungsreferendum in der Türkei. Vielen Dank.
    Sammann: Gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.