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Türkische Neujahrslotterie
Mit Aberglauben zum Millionen-Jackpot

Der Kurdenkonflikt neu aufgeflammt, Streit mit Russland, stotternde Konjunktur: Aus der Türkei kamen in diesem Jahr wenig gute Nachrichten. Gerade jetzt sorgt ein kleiner Lottokiosk in Istanbul für Hoffnung.

Von Luise Sammann und Fatih Kanalici | 24.12.2015
    Es ist kalt in Istanbul. Grau und abweisend teilt der sonst so freundlich glitzernde Bosporus die Stadt in ihre zwei Hälften. Die Menschen, die sich trotz Regen auf die Straße gewagt haben, hetzen mit gesenkten Köpfen nach Hause. Nur auf einem großen Platz im Uferviertel Eminönü, gleich neben dem Gewürzbasar, scheint das Wetter keine Rolle zu spielen.
    "Jedes Jahr um diese Zeit wird es hier proppenvoll", erklärt ein Imbissbesitzer, der kopfschüttelnd das Gedränge beobachtet. "Gucken Sie sich diese Menschenschlange an. Hunderte Wartende!"
    Knapp 500 Menschen drängeln sich vor einem klitzekleinen Lottokiosk am Rande des Platzes. Nimet Abla, Schwester Nimet, steht in roten Buchstaben darüber. Seit hier im Jahr 1931 das Gewinnerlos für die türkische Neujahrslotterie verkauft wurde, ist Nimet Abla Kult. Knapp eine Million Lose sollen ihre Erben bis heute jedes Jahr hier verkaufen. Imbissbesitzer Ahmet freut's: "Wir verdienen alle daran mit. Im Dezember belebt Nimet Abla das ganze Viertel. Wer stundenlang ansteht, kommt danach hungrig zu uns."
    Sieben Angestellte hocken hinter der Glasscheibe des kleinen Kiosks, verkaufen Lose im Sekundentakt. Zeit für ein Gespräch hat keiner von ihnen. Dafür aber die Wartenden, die klitschnass davor stehen.
    "Ich frage mich auch, was ich hier eigentlich bei diesem Regen zu suchen habe", sagt eine Frau frierend. "Aber es heißt nun mal, dass die Chance auf den Gewinn hier größer sei als anderswo."
    "Wir sind extra aus dem 1200 km entfernten Antakya angereist!", erklärt ein Mann. "Nun hoffen wir in der Kälte auf unser Schicksal".
    Die Glücksfee von einst ist seit Jahren tot
    Im Schneckentempo geht es vorwärts. Private Sicherheitsleute, angestellt von Nimet Ablas Erben persönlich, sorgen dafür, dass sich keiner vordrängelt. Sesamkringel- und Teeverkäufer bieten den Wartenden ihre Ware an.
    "Was stehen Sie im Regen, bei uns gibt es doch die gleichen Lose", ruft eine der vielen fliegenden Losverkäuferinnen, die in diesen Tagen durch Istanbul ziehen. "Gleiche Lose, gleiches Glück", ruft ein anderer. Doch die Menschen in der Schlange bleiben stur.
    "Nimet Abla, die angebliche Glücksfee, ist seit vierzig Jahren tot", stellt Losverkäufer Ferit entrüstet fest.
    "Aber unsere Landsleute sind abergläubisch. Sie denken, nur weil es einmal passiert ist, muss es wieder passieren. Es ist geradezu lächerlich."
    Lächerlich oder nicht, der Mythos Nimet Abla gehört zum türkischen Jahreswechsel wie das Schaf zum Opferfest. Und das, obwohl längst nicht jeder davon träumt, den Rekordjackpot von 55 Millionen Lira zu knacken.
    "Ganz ehrlich: Ich hoffe, dass Nimet Abla am Ende nicht wirklich Glück bringt. Ich würde ja verrückt werden, wenn ich den Hauptgewinn ziehen sollte!"