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Türkischer Militärangriff auf Syrien ist "außerordentlich unwahrscheinlich"

Mit der Androhung eines Gegenschlages auf Syrien als Reaktion auf die Bombenanschläge in Reyhanli versucht Ankara, die NATO-Staaten zu einem Bündnisfall zu überzeugen, erklärt Nahost-Experte Günter Meyer. Die Vermutung, dass das syrische Regime hinter den Anschlägen stecke, sei "absolut unglaubwürdig".

Günter Meyer im Gespräch mit Martin Zagatta | 13.05.2013
    Martin Zagatta: Fast 50 Menschen sind bei Bombenanschlägen in der Türkei am Wochenende getötet worden, in einer Grenzstadt mit Syrien. Die Türkei hat umgehend den syrischen Geheimdienst beschuldigt, inzwischen ist von Linksextremisten auch die Rede, und sie hat dem Regime in Damaskus mit einem Gegenschlag gedroht.
    Mitgehört hat Professor Günter Meyer, Nahost-Experte an der Universität in Mainz. Guten Tag, Herr Meyer!

    Günter Meyer: Guten Tag, Herr Zagatta!

    Zagatta: Herr Meyer, wenn Sie das eben gehört haben, wie groß schätzen Sie die Gefahr ein, dass die Türkei tatsächlich - damit droht sie ja – zu einem Gegenschlag ausholt?

    Meyer: Dass die Türkei alleine zu einem Gegenschlag ausholen wird, halte ich für außerordentlich unwahrscheinlich. Es geht vor allem gerade auch mit diesen Drohgebärden offensichtlich darum, den Westen, gerade die übrigen NATO-Staaten auch mit ins Boot zu ziehen. Das heißt, die Argumentation, die im Endeffekt dahinter steht, hier das syrische Regime ist verantwortlich für diesen Anschlag in der Türkei und damit besteht die Möglichkeit oder wird sicherlich versucht vonseiten der türkischen Regierung, jetzt Druck auszuüben gegenüber den NATO-Staaten zu sagen, dass hier der Bündnisfall eintritt. Und auch gerade vor dem bevorstehenden Besuch am Donnerstag in Washington ist das natürlich ein wichtiger Punkt, denn unter der Behauptung, dieser Anschlag ist von Damaskus ausgeübt worden, dann hätte Erdogan ein weiteres Argument, um zu sagen, es ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, alle roten Linien sind überschritten und jetzt muss endlich die NATO eingreifen, jetzt muss eine Flugverbotszone errichtet werden, jetzt müssen Waffen an die Aufständischen geliefert werden.

    Zagatta: Für wie glaubhaft halten Sie es denn, dass die Türkei umgehend Beweise haben will, dass das Regime in Damaskus, dass das hinter diesem Anschlag steckt?

    Meyer: Erdogan ist dringend darauf angewiesen, Punkte zu sammeln, um seine Argumentation, den international, den moralischen Druck weltweit auf das Regime zu erhöhen. Das heißt, es ist absolut unglaubwürdig diese Argumentation, es handelt sich bei den Festgenommenen um linksextreme Türken, die revolutionäre Volksbefreiungspartei und eine Splittergruppe der Volksbefreiungspartei Front, die hier verhaftet worden sind. Denen zu unterstellen, dass die ausgerüstet worden sind vom syrischen Geheimdienst, würde bedeuten, dass Damaskus ein Interesse an einem Bombenanschlag hier hat. Aber genau das ist nicht der Fall!

    Zagatta: Genau das wollte ich Sie ja gerade fragen. Welches Interesse könnte denn das syrische Regime haben, sich mit der Türkei anzulegen? Das wäre doch, wenn man das salopp formuliert, kontraproduktiv.

    Meyer: Es wäre absolut kontraproduktiv, denn das sind genau die Signale, auf die die Aufständischen, auf die die Opposition wartet, um ihren Druck im Hinblick Waffenlieferung, Flugverbotszone zu stärken. Das heißt, wenn das syrische Regime tatsächlich dahinter steckte, würde es sich selber schaden. Das heißt, auch die ganzen Reaktionen, die bisher vom Assad-Regime gekommen sind, waren eindeutig: Wir werden uns doch nicht selber schaden mit einem solchen Bombenanschlag, wo wir die Türkei provozieren und wo wir den Gegnern genau die entscheidenden Argumente liefern, um uns militärisch anzugreifen. Das Regime in Damaskus hat nicht das geringste Interesse an einem solchen Anschlag.

    Zagatta: Welches Interesse hätte denn im Gegenzug Erdogan oder die Türkei, gegen das Regime in Damaskus vorzugehen, wenn das alles so unklar ist?

    Meyer: Das gleiche Interesse, was Erdogan auch schon in der letzten Woche gezeigt hat, als er in einem NBC-Interview erklärt hat, er beziehungsweise sein Geheimdienst habe die Reste von mehr als 200 Geschossen, an denen Sarin-Gasreste sich befänden, und diese Giftgas-Geschosse seien vonseiten des syrischen Regimes eingesetzt worden. Wenn das tatsächlich der Fall gewesen wäre, über 200 Geschosse, die hier zum Einsatz gekommen sind, das wären Massenvernichtungswaffen gewesen. Es hätte Hunderte, Tausende von Toten gegeben, wenn tatsächlich das Regime diese Waffen eingesetzt hat. Aber davon kann überhaupt nicht die Rede sein. Es hat einen Vorfall gegeben, wo etwa 15 Tote in einer Siedlung nördlich von Aleppo festgestellt worden sind, aber das ist eine Siedlung, die aufseiten des syrischen Regimes stand. Es leben dort Schiiten, die von den sunnitischen Dschihadisten und Rebellen angegriffen werden. Auch die Tatsache, dass drei syrische Soldaten dabei ums Leben gekommen sind, in einem Dorf, was vom Regime kontrolliert wird, das zeigt schon, dass diese ganze Strategie, Giftwaffeneinsatz dem Regime zu unterstellen, nur darauf abzielt, die rote Linie zu überschreiten, die Präsident Obama angekündigt hat, um ein Eingreifen in Syrien zu rechtfertigen. Das heißt, es ist offensichtlich eine Inszenierung, zunächst vonseiten der Aufständischen, die damit den Druck erhöhen wollen, und jetzt Erdogan noch mal, der nachlegt, indem er sagt, er hätte diese 200 Geschosse, die dort eingesetzt worden sind. Aber das ist absolut unglaubwürdig, noch unglaubwürdiger als das, was die Aufständischen schon bei dem ersten Giftgaseinsatz behauptet haben.

    Zagatta: Herr Professor Meyer, Sie kennen ja die Region ziemlich genau. Welches Gewicht haben denn solche Anschuldigungen aus der Türkei, wenn Erdogan jetzt Präsident Obama besucht? Welches Gewicht hat die Türkei da in den USA, können Sie das einschätzen?

    Meyer: Solche Argumente, gerade Giftgaseinsatz jetzt mehrfach belegt und auch die Bombenanschläge, werden natürlich von denjenigen Gruppierungen in den USA begierig aufgenommen, die ebenfalls Druck ausüben, damit die US-Regierung hier Waffen liefert beziehungsweise eine Flugverbotszone in Syrien einrichtet. Es gibt entsprechende Gruppierungen, die solche Meldungen mit Begeisterung nutzen, um diese Zielsetzung und den Druck gegenüber dem US-amerikanischen Präsidenten zu erhöhen. Auf der anderen Seite ist die Regierung selber in Washington. Die sagt ganz klar, wir haben keinerlei Beweise dafür, dass tatsächlich das Regime diese Waffen eingesetzt hat. Carla Del Ponte von der UN-Kommission geht sogar so weit, dass sie sagt, es ist ganz klar, dass wir einen sehr konkreten Verdacht haben, dass hier Sarin-Gas eingesetzt worden ist in Syrien, aber genau nicht von dem Regime, sondern von den Aufständischen. Das wurde zwar offiziell dementiert, aber sie hat dann noch mal nachgelegt und klar gesagt, das was hier an Beweisen auf dem Tisch liegt, das stammt nicht von dem Regime. Das Regime hat kein Interesse daran, Giftgas einzusetzen, um sich dadurch zu schaden, hier wieder die rote Linie zu überschreiten. Das heißt, es läuft alles auf einen Propagandakrieg hinaus, und diejenigen Gruppierungen, wo immer sie sich befinden, die für Waffenlieferungen und für eine Flugverbotszone, für das militärische Eingreifen der NATO sind, das sind diejenigen, die das natürlich weiter ausnutzen werden.

    Zagatta: Herr Meyer, noch kurz: Die USA setzen ja offenbar auf eine neue Syrien-Konferenz. Das hat man mit Moskau vereinbart. Haben Sie da noch irgendwelche Hoffnungen, dass bei einer solchen Konferenz – es hat ja viele solcher Anläufe gegeben – noch etwas herauskommen könnte?

    Meyer: In der jetzigen Situation auf jeden Fall, denn die USA ist sich völlig im Klaren darüber, dass wenn es zu einem militärischen Angriff kommt, wenn das Assad-Regime tatsächlich dann militärisch ausgeschaltet wird, dann entsteht ein Machtvakuum und dieses Machtvakuum in Syrien, das wird wahrgenommen von den Dschihadisten, das wird wahrgenommen von Al-Kaida. Wir hätten dann in Syrien das weltweit wichtigste Zentrum der Al-Kaida-Kämpfer. Das heißt, es kann der USA nicht daran gelegen sein, jetzt mit einem militärischen Eingreifen ein solches Machtvakuum zu schaffen. Das heißt, der Druck auf den Westen wird wesentlich größer, zu einer friedlichen Lösung im Endeffekt doch noch zu kommen, was man schon nach den Genfer Vereinbarungen im Juni letzten Jahres hätte haben können.

    Zagatta: Professor Günter Meyer, der Nahost-Experte von der Universität in Mainz. Herr Meyer, herzlichen Dank für diese Einschätzungen.

    Meyer: Vielen Dank, Herr Zagatta.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.