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Türkischer Präsident Erdogan
Wir oder die

Lange basierte die Macht der türkischen Regierungspartei AKP auf dem ökonomischen Fortschritt des Landes. Doch Macht und Beliebtheit der AKP sowie des türkischen Präsidenten Erdogan scheinen größer denn je - obwohl der wirtschaftliche Boom stagniert. Das Erfolgsrezept hat einen einfachen Namen.

Von Luise Sammann | 08.07.2016
    A handout picture provided by the Turkish President Press Office shows Turkish President Recep Tayyip Erdogan speaking during the opening ceremony of the Kocaeli Osman Gazi Bridge in Kocaeli, Turkey, 30 June 2016. The Kocaeli Osman Gazi Bridge, the world's fourth-longest suspension bridge, was inaugurated by Erdogan after 39 months of construction works. Der türkische Präsident Erdogan spricht in ein Mikrofon bei einer Eröffnungszeremonie der Osman-Gazi-Brücke in Kocaeli, Türkei. Im Hintergrund die Brücke und der Golf von Izmit.
    Osman-Gazi-Brücke - die viertgrößte Hängebrücke der Welt - eröffnet von Präsident Recep Tayyip Erdogan am 30. Juni 2016. (dpa//epa/Turkish President Press Office)
    "Mitkommen, Tasche öffnen!" Der Sicherheitsbeamte am Istanbuler Fähranleger Kadiköy winkt einen Mann mit großer Sporttasche über der Schulter heran. Als der zunächst nicht reagiert, werden die anderen Passagiere sichtlich nervös. Student Berkay macht instinktiv ein paar Schritte zurück.
    "Mein Zwillingsbruder hat den Atatürk-Flughafen letzte Woche nur 10 Minuten vor der Explosion verlassen. Wäre er nicht sofort in ein Taxi gestiegen, wäre er vielleicht unter den Opfern. Natürlich haben wir Angst."
    Der Mann mit der Tasche gehorcht schließlich doch. Verschwitzte Klamotten kommen zum Vorschein, ein paar Handtücher und Schuhe. Fehlalarm. Eine Frau mit Smartphone und Laptoptasche in der Hand blickt trotzdem verunsichert herüber. Eigentlich, sagt sie, würde sie am liebsten völlig auf öffentliche Verkehrsmittel verzichten. Aber die Bosporusfähre bringt sie wie Tausende andere Istanbuler jeden Morgen zur Arbeit.
    In Bussen und Metros herrscht nachdenkliche Stille
    "Während ich hier laufe, frage ich mich die ganze Zeit, wo die nächste Bombe hochgeht. Plötzlich ist klar, dass man ständig und überall sterben kann."
    Auch wenn in Istanbul wieder Alltag eingekehrt ist. Der Schock, den der verheerende Bombenanschlag mit 45 Toten und weit über 200 Verletzten vergangene Woche ausgelöst hat, sitzt tief. In Bussen und Metros herrscht nachdenkliche Stille, zahlreiche Konzerte, Partys und Sportveranstaltungen wurden abgesagt. Doch nach dem zehnten Anschlag auf die türkische Zivilbevölkerung in nur einem Jahr wächst nicht mehr nur die Angst. Auch Wut und Empörung sind zu spüren. Rächt sich jetzt, dass die AKP-Regierung die IS-Terroristen lange gewähren ließ, sie öffentlich als "trotzende Kinder” verharmloste, fragen sich vor allem regierungskritische Türken? Wie kann es sein, dass solche Anschläge nicht verhindert werden? Eine junge Frau schimpft:
    Nach dem Selbstmordanschlag am Atatürk-Flughafen in Istanbul haben die Menschen das Gebäude verlassen und spenden sich Trost
    Nach dem Selbstmordanschlag am Atatürk-Flughafen in Istanbul (EPA)
    "Keiner weiß mehr, was als Nächstes passieren wird. Nur, dass es weitergeht, das wissen wir. Denn es wird ja nichts dagegen getan! Irgendjemand muss diese Terroristen stoppen, aber keiner tut es."
    Das türkische Fernsehen – längst kritikfreie Zone
    Kurz sah es in den Tagen nach dem Anschlag so aus, als könnten Stimmen wie diese zu einem Sturm anwachsen. Selbst im türkischen Fernsehen – eigentlich längst kritikfreie Zone – stellte der ein oder andere Journalist unbequeme Fragen.
    Der Oppositionspolitiker Eren Erdem erschien am Tag nach dem Anschlag mit einem Stapel kopierter Geheimdienstberichte im Parlament. "Wenn ein Regierungskritiker in diesem Land den Mund aufmacht, landet er sofort im Gefängnis", polterte er.
    Aber schauen sie sich den Mann in diesem Bericht hier an: Gegen ihn laufen drei Ermittlungsverfahren. Unter anderem soll er Islamisten von der Türkei aus in die IS-Hochburg Raqqa gebracht haben. Mit Waffen und sprengstoffbeladenen Autos. Das Ergebnis? Dieser Mann läuft in unserem Land frei herum, während Journalisten oder Akademiker wegen kleinster Vergehen verhaftet werden."
    Die Rede des charismatischen Oppositionspolitikers schlug im türkischen Internet hohe Wellen. Zwei Millionen Mal wurde das Video bei Facebook angeklickt. Doch dabei blieb es. Nur zehn Tage nach dem Anschlag am Atatürk-Flughafen ist die Empörung der Regierungskritiker wieder einmal der Resignation gewichen.
    Denn die Mehrheit der türkischen Gesellschaft, das war schnell klar, hält weiterhin treu zur regierenden AKP. Statt sich aufzuregen, unterstützte sie die Worte des konservativen Parlamentspräsidenten Ismail Kahraman, der zu Geschlossenheit und Einheit gegen den Terror aufrief. Wer jetzt, in Zeiten der nationalen Trauer, Kritik wagte, stand wie so häufig in der Vergangenheit als herzloser Vaterlandsverräter da.
    Opposition schafft es nicht, Energie der Gezi-Proteste zu nutzen
    Was aber ist es, das Präsident Erdogan und der AK-Partei seit nunmehr 14 Jahren Sympathien und Mehrheiten beschert, von denen andere Parteien in Europa nur träumen? Wie kommt es, dass selbst Korruptionsskandale, Massendemonstrationen und eine ständig wachsende Terrorgefahr ihr nicht gefährlich werden?
    Allein das Versagen der Opposition, die es bis heute nicht geschafft hat, die Energie der Gezi-Proteste zu nutzen, scheint als Erklärung nicht zu reichen. Umfragen zeigen: Wären an diesem Sonntag Parlamentswahlen in der Türkei, die AKP würde erneut um die 50 Prozent der Stimmen erhalten.
    Türkische Bürger schreien Slogans am ersten Tag des Ramadan - die Gezi-Proteste gegen die türkische Regierung am 09 Juli 2013 in Istanbul
    Gezi-Park: Türkische Bürger protestieren 2013 gegen die Regierung (dpa / picture alliance / Georgi Licovski)
    Man könnte meinen, auf dem riesigen Platz am Rande Istanbuls stünde eine Fußballübertragung der türkischen Nationalmannschaft an: Ein paar Jugendliche verkaufen schreiend bunte Schals an die aus allen Richtungen herbeiströmenden Menschen. Ordner verteilen rote Türkeifähnchen an jeden, der die obligatorische Taschenkontrolle am Platzeingang passiert.
    Präsident Recep Tayyip Erdogan höchstpersönlich hat seinen Besuch angekündigt. Mehr als eine Million Anhänger werden erwartet. Auf einem umgedrehten Karton mitten im Gewühl hat sich der 65-jährige Ahmet Merkit niedergelassen, präsentiert ein selbst geschriebenes Gedicht:
    Einer, der gerade steht,
    sich immer und überall wacker schlägt.
    Einer, der sein Wort nie bricht –
    Wer bloß ist dieser Heldenmann?
    Recep Tayyip Erdogan!
    Einer, der türkische Träume wahr macht.
    Einer, der schuftet, Tag und Nacht.
    Einer, der die Herzen erobern kann,
    Wer bloß ist dieser Heldenmann?
    Recep Tayyip Erdogan!
    Recep Tayyip Erdogan spricht am 30.03.2014 zu seinen Anhängern. Der türkische Ministerpräsident will nach dem Sieg bei den Kommunalwahlen mit seinen politischen Widersachern abrechnen.
    Recep Tayyip Erdogan spricht am 30.03.2014 zu seinen Anhängern (AFP/KAYHAN OZER/Pressefoto Büro des türk. Ministerpräsidenten)
    Zehntausend Mal hat Hobbydichter Ahmet seine acht Strophen umfassende Erdogan-Hymne ausgedruckt. Für eine Lira, gut dreißig Cent, verkauft er sein Werk an die immer zahlreicher werdenden Erdogan-Fans. Großfamilien lassen sich mit Thermoskannen und Tupperware zum Picknick nieder um die besten Plätze zu sichern, Kinder mit Erdogan-T-Shirt jagen über den Platz, ein Moderator, klein wie ein Legomännchen auf der überdimensionalen Bühne, sorgt für Stimmung.
    Erdogan ist Führer, Vorbild und Vaterfigur in einem
    Der 26jährige Cafer reißt mit Tausenden anderen sein Fähnchen in die Luft, als zum Hundertsten Mal der baldige Auftritt des Präsidenten angekündigt wird.
    "Die Gefühle, die wir für Erdogan hegen, kann man nicht beschreiben. Man muss sie leben! Erdogan ist anders als alle anderen."
    Für den Auftritt des sogenannten "Großen Meisters" hat Cafer den Sonntagsanzug aus dem Schrank geholt. Seit frühester Jugend engagiert sich der Sohn eines Straßenhändlers in der AKP. Erdogan mit seinen polternden Auftritten, selbst einst in einfachsten Verhältnissen aufgewachsen, ist für ihn Führer, Vorbild und Vaterfigur in einem. Auch Rentner Metin, der schwer atmend in der brütenden Mittagshitze aushält, ist die Begeisterung anzusehen.
    "Wir haben in 15 Jahren erreicht, was eigentlich nicht mal in 80 Jahren zu schaffen ist. Früher glich allein der Weg von Istanbul nach Ankara einer Weltreise, heute braucht der Schnellzug keine zweieinhalb Stunden mehr. Bevor die AKP kam, hatten wir nicht mal eine Metro hier!"
    Wirtschaftlicher Aufschwung sicherte AKP die Mehrheit
    Rentner Metin kommt ins Schwärmen. Die modernen Hochhäuser fallen ihm ein, in denen selbst einfache Arbeiter wie er nun samt Flachbildfernseher und Internetanschluss leben. Die neuen Autobahnen im ganzen Land, das kostenlose Gesundheitssystem.
    "Plötzlich ist die Türkei der Welt wieder ein Begriff. Wir produzieren unsere eigenen Waffen, eigene Computersoftware, eigene Satelliten. Europa, Amerika und die ganze Welt beneiden uns. Deswegen behaupten sie, Erdogan sei ein Diktator. Aber das ist er nicht."
    Tatsächlich ist es vor allem der unverkennbare wirtschaftliche Aufschwung, der der AKP lange die Stimmenmehrheit im Land sicherte. Gerade deswegen aber müsste ihr Erfolg nun in Gefahr sein. Denn nicht nur die aktuelle Tourismuskrise sorgt dafür, dass der türkische Boom stagniert. Die Lira fällt, die Preise steigen. Allein Obst und Gemüse verteuerten sich im vergangenen Jahr um rund ein Viertel. Auch die Stabilität im Land – wichtigstes Wahlversprechen bei den Wahlen vor sechs Monaten – konnte die Regierungspartei bisher nicht wiederherstellen, wie der Krieg im kurdischen Südosten und die Terroranschläge in Ankara und Istanbul zeigen. Was also hält die Wähler weiter bei der Stange?
    "Ein wichtiger Grund, warum gerade konservative Türken weiter die AKP unterstützen, ist ihre traditionelle Angst davor, von der anderen Hälfte der Gesellschaft diskriminiert zu werden, wenn die Partei eines Tages die Macht verliert."
    Ehemalige Elite seit 14 Jahren auf der Ersatzbank geparkt
    So der Istanbuler Gesellschaftspsychologe Murat Paker mit Blick auf den traditionellen Konflikt zwischen säkularen und religiösen Türken. Mit dem Amtsantritt Erdogans vor 14 Jahren übernahmen die ärmeren aber zugleich viel zahlreicheren Religiösen zum ersten Mal die Macht. Die Kemalisten, vorher jahrzehntelang herrschende Elite, schauen dem Spiel um ihr Land seitdem wie vom Platz geschickte Fußballer von der Seitenlinie aus zu. Psychologe Paker:
    "Die AKP-Anhänger fürchten nun: Sie werden kommen und uns zerstören. Sie werden uns wieder die Kopftücher verbieten. Sie wollten uns ohnehin nie. Deswegen müssen wir, was auch immer passiert, zu unserer Partei und unserem Führer halten. Und die AKP schürt diese Angst, weil sie ihr hilft, die Menschen hinter sich zu scharen."
    Die Istanbuler Polizei setzte Wasserwerfer gegen Demonstranten ein.
    Die Istanbuler Polizei setzte Wasserwerfer gegen Demonstranten ein. (picture alliance / dpa / EPA / Sedat Suna)
    Nie war die Polarisierung der türkischen Gesellschaft so stark wie heute. Seit den Gezi-Protesten vom Sommer 2013 vergeht kaum ein Tag, ohne dass Erdogan seine Anhänger vor ihren angeblichen Feinden im In- und Ausland warnt. Bis heute hält die Hälfte der Türken Gezi für das Werk von Verrätern, die der Türkei und damit ihnen schaden wollen. Erdogan damals:
    "Alles, was diese Demonstranten tun, ist zu zerstören. Sie zünden öffentliche Gebäude und Autos an. Aber das ist noch nicht alles. Sie haben auch meine verschleierten Töchter und Schwestern angegriffen. Und noch schlimmer: Sie haben mit Bierflaschen in der Hand und Schuhen an den Füßen in einer Moschee herumgetrampelt."
    AKP unterstützen, um nicht mit ihr unterzugehen
    Mit Feindbildern wie dem vom antiislamischen Gezi-Demonstranten schwört Erdogan seine Anhänger auf einen angeblichen Kampf ein, hinter dem politische Inhalte zurücktreten. Die AKP ist nun keine Partei mehr, für deren Programm man alle vier Jahre seine Stimme abgibt. Sie ist eine Bewegung, die man unterstützt, um nicht mit ihr unterzugehen. Sie zu wählen bedeutet eine Antwort auf die scheinbar relevanteste Frage der heutigen Türkei: Wir oder die?
    Wir sehen, dass sich diese Polarisierung immer mehr auch auf den Alltag der Menschen auswirkt. Auf die Sprache, die sozialen Beziehungen. Auf alles."
    So die Soziologin Nilüfer Narli von der Istanbuler Bahcesehir-Universität.
    Die Leute ordnen alles und jeden als potenzielle Bedrohung ein. Jemand, der einer anderen sozialen Gruppe angehört, wurde früher schlicht als anders wahrgenommen. Aber heute bedeutet "anders" automatisch feindlich und bedrohlich. Das versetzt die Menschen in eine ständig Kampf- und Konfliktbereitschaft."
    Eine Veränderung, die man auch im eigentlich als weltoffen geltenden Istanbul zunehmend spürt. Sei es bei kleinen Meinungsverschiedenheiten in Bus und Bahn, bei denen urplötzlich AKP-Anhänger und –Gegner gegeneinander aufstehen. Oder bei ernsten handgreiflichen Auseinandersetzungen, wie dem Angriff auf eine Gruppe Jugendlicher, die es gewagt hatten, mitten im Fastenmonat Ramadan Alkohol zu trinken.
    Muslime warten auf einer Grünfläche vor der Hagia Sophia in Istanbul darauf am ersten Tag des Fastenmonats Ramadan wieder etwas zu essen.
    Ramadan in Istanbul, vor der Moschee Hagia Sophia (dpa/ picture alliance / Cem Turkel )
    Während eine Webkamera live mitschnitt, stürmten etwa 20 junge Männer den Istanbuler Plattenladen, in dem die Jugendlichen beisammen saßen und das neue Album von Radiohead hörten. Das Geschäft wurde verwüstet, die Trinkenden brutal verprügelt.
    Erschreckendes Ausmaß der Polarisierung
    Konflikte zwischen den so unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen der Türkei hat es immer gegeben. Neu ist die Aggressivität, mit der sie sich auch im Alltag begegnen. Eine aktuelle Studie des German Marshall Funds zeigt, welch erschreckendes Ausmaß die Polarisierung angenommen hat:
    80 Prozent der Menschen wollen nicht, dass ihre Kinder in die Familien des politischen Gegners einheirateten. Über 70 Prozent wollen mit der anderen Seite keine Geschäfte machen, als Nachbarn nebeneinander wohnen oder die Kinder miteinander spielen lassen. "Es herrscht ein ständiger, unterschwelliger Hass", so Forscher Emre Erdogan, der die Studie durchführte.
    "Es wird um Symbole gekämpft, um Sprache und selbst um Orte. In Istanbul zeigt sich das allein an der fortschreitenden "Aufteilung des Wohnraums". Wenn sie in bestimmte Stadtviertel mit einem Minirock gehen, werden die Leute sie anschreien. Das Gleiche passiert ihnen in anderen Vierteln, wenn sie dort ein Kopftuch tragen. Wir können von Glück sagen, dass es nicht öfter zu physischen Auseinandersetzungen kommt. Aber die symbolischen und kulturellen Konflikte sind allgegenwärtig.
    Emre Erdogans Büro liegt im schicken Istanbuler Stadtviertel Nisantasi. Designerläden, Juweliere, Cafés und Bars, die so auch in Zürich oder New York eröffnen könnten, säumen die von teuren Autos befahrenen Straßen. Die Sommerkleider der Frauen sind kurz. Über 80 Prozent der Menschen in Nisantasi wählen die säkulare Partei CHP. Anhänger von Präsident Erdogan sucht man hier vergeblich. Das in jedem Reiseführer besungene kunterbunte Miteinander der Bosporus Metropole wird immer seltener.
    "Suche nach einem Sündenbock"
    "Die Gefahr an der anhaltenden Spannungssituation im Land ist, dass alle ständig auf der Suche nach einem Sündenbock sind. Wenn da einer mit dem Finger auf eine Gruppe zeigt, die mir ohnehin unsympathisch ist, dann kann es ganz schnell gefährlich werden."
    Nirgendwo zeigt sich das besser als am neu aufgeflammten Kurdenkonflikt. Gut zwei Jahre lang herrschte Waffenruhe zwischen der PKK und dem türkischen Militär. Weder türkische noch kurdische Opfer wurden, wie sonst, medienwirksam zu Grabe getragen. Bis Erdogan den Friedensprozess im vergangenen Jahr für gescheitert erklärte.
    Inzwischen sprechen nationale und internationale Beobachter von einem Krieg in der Südosttürkei. Türkische Panzer greifen PKK-Terroristen mitten in Wohnvierteln an, ganze Straßenzüge werden niedergewalzt, Zivilisten teilweise über Wochen unter Hausarrest gestellt. Unschuldige Menschen sterben, weil sie nicht rechtzeitig ins Krankenhaus kommen oder weil ihnen die Lebensmittel ausgehen.
    Ein gepanzertes Fahrzeug steht im Zentrum von Nusaybin im Südosten der Türkei am 20.01.2016.
    Seit Wochen leisten militante Kurden in Städten in der Südosttürkei erbitterten Widerstand gegen die türkische Armee. (picture alliance / dpa / Can Merey)
    Im fernen Istanbul spürt man von all dem auf den ersten Blick nichts, kaum ein türkisches Medium berichtet über die Zustände im Südosten des Landes. Dennoch macht sich der Konflikt immer deutlicher bemerkbar, meint Ahmet Birsin, Chefredakteur der kurdischen Zeitung Özgür Gündem.
    "Natürlich gab es früher auch einen Krieg zwischen Türken und Kurden. Aber die einfachen Leute auf der Straße hatten eigentlich nichts gegeneinander. Heute aber sorgen zunehmend faschistische und rassistische Reden dafür, dass sich das ändert. Regierungsabgeordnete und AKP-treue Journalisten beleidigen die Kurden ganz offen oder sie sagen:
    Verschwindet von hier. Die Menschen hören das und lassen sich anstecken. Vor Kurzem wollte ein Bus von Ankara nach Diyarbakir fahren. Plötzlich rannte jemand mit einer Schrotflinte hinein und schoss wild auf die Passagiere – nur, weil sie in die Kurdengebiete wollten!"
    Präsidialsystem - so schnell wie möglich
    Türken gegen Kurden, Säkulare gegen Religiöse, Erdogan-Fans gegen Erdogan-Gegner. Die Spaltungen in der türkischen Gesellschaft haben längst alle Gruppen erfasst. Kein einziger Bürger am Bosporus, so scheint es, kann sich den zahlreichen Konflikten im Land noch entziehen. Ein Zustand, der laut türkischen Wahlforschern vor allem einem nutzt: Recep Tayyip Erdogan.
    Dass der Großteil der Bevölkerung traditionell religiös-konservativ eingestellt ist, sorgt dafür, dass sich die Mehrheit im Konfliktfall hinter ihn und seine Partei stellt. Beste Voraussetzungen also für das Präsidialsystem, das der mächtige Politiker laut eigener Aussage so schnell wie möglich in der Türkei etablieren will.