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Türkisches Militär
Ska Keller: "Die Gewalt ist unproportional"

Die Grünen-Europaabgeordnete Ska Keller kritisiert das Vorgehen des türkischen Militärs gegen die Kurden im Südosten des Landes als unverhältnismäßig. Die Kinder und älteren Frauen unter den Todesopfern seien ganz bestimmt keine bewaffneten Kämpfer, sagte Keller im Deutschlandfunk. Die Politikerin hält sich gerade im kurdischen Teil des Landes auf.

Ska Keller im Gespräch mit Dirk Müller | 23.02.2016
    Die Grünen-Politikerin Ska Keller
    Die Grünen-Politikerin Ska Keller (dpa / picture-alliance / Oliver Mehlis)
    Dirk Müller: Im Syrien-Krieg manövriert sich die Türkei immer mehr ins Abseits. Die türkische Armee kämpft derzeit vor allem gegen die syrische Kurden-Miliz YPG. Der Vorwurf lautet, die Organisation steckt hinter dem Terroranschlag von Ankara in der vergangenen Woche, wo mindestens 28 Soldaten ums Leben gekommen waren. Die YPG weist das zurück. Auch die Amerikaner sehen das skeptisch, arbeitet das Pentagon doch ganz eng zusammen mit der YPG als Verbündete im Kampf gegen den IS. Die Türkei bleibt also isoliert in ihrer Forderung, Bodentruppen ins Nachbarland Syrien zu schicken. Ankaras Kampf gegen die syrischen Kurden - das haben wir gerade gehört. Ankaras Kampf gegen die PKK im Südosten, im Osten der Türkei, das ist jetzt unser Thema. Hunderte von Toten hat dieser Krieg alleine in den zurückliegenden Monaten gefordert. Präsident Erdogan lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass er die Gangart seiner Militärs auch noch weiter verschärfen möchte. - In der Region erreichen wir nun die Grünen-Politikerin Ska Keller. Sie ist Fraktionsvize im Europäischen Parlament und sie hat in der Region schon zahlreiche Gespräche mit Politikern verschiedener Couleur und Parteien führen können. Guten Morgen!
    Ska Keller: Guten Morgen.
    Müller: Frau Keller, die Angriffe auf die PKK, ist das ein Krieg gegen das kurdische Volk?
    Keller: Was wir hier berichtet bekommen von Menschen aus den Städten, wo die Ausgangssperren eingerichtet worden sind, ist, dass sehr, sehr viele Zivilistinnen und Zivilisten umkommen und auch Menschen aus Altersgruppen, wo es schwer zu erwarten ist, dass die militante Kämpfer werden, und das macht es nicht einfach zu glauben, dass das alles nur militante Kämpfer sind, die da umkommen. Uns wird gesagt, es gibt Namenslisten, es gibt Beweise, dass das auch Zivilistinnen und Zivilisten sind. In jedem Fall ist es aber völlig klar, dass die Gewalt, die da ausgeübt wird vom türkischen Staat, komplett unproportional ist. Selbst wenn man sagt, man will gegen Terror kämpfen, dann tut man das ja nicht, indem man Panzer in die Innenstädte schickt, und genau das passiert hier.
    "Die Regierung präsentiert sich komplett unselbstkritisch"
    Müller: Sie sagen, es wird gesagt, wir hören das auch immer wieder in Medienberichten. Es ist offenbar sehr, sehr schwer, das alles zu bestätigen. Haben Sie Bestätigung gefunden? Haben Sie klare Nachweise sehen können, dass dem so ist, dass die Angriffe auch zahlreiche Zivilisten töten?
    Keller: Ja, der Gouverneur, den wir auch getroffen haben, der von der Regierung aus Ankara entsandt ist, der hat uns auch vorgeworfen, wir hätten ja nur einseitige Informationen. Dann haben wir gesagt, na gut, in der Tat ist es sehr schwierig, Informationen neutraler Art zu bekommen. Dann würden wir gerne in eine Stadt reinfahren, dort gucken, was dort passiert, ob er uns dafür die Erlaubnis geben würde. Dann sagte er Nein, die Erlaubnis gebe er uns nicht. Es ist halt schwierig, von der Regierung zu sagen, wir hätten nur einseitige Informationen, wenn sie uns gleichzeitig keine anderen Informationen gibt. Wir haben auch wirklich versucht, vom Gouverneur - wir haben uns auch mit den AKP-Vertretern hier getroffen - herauszufinden, was ist denn deren Strategie, was denken die sich denn, oder sind sie wirklich der Meinung, dass man Terrorismus so bekämpfen kann, aber da kam wirklich nie etwas zurück. Deswegen bin ich sehr enttäuscht davon, wie sich die Regierung hier präsentiert: komplett unselbstkritisch. Es gibt da keine Reflexion, kein Nachdenken, sondern was wir hier erzählt bekommen klingt so, als ob es die vorgegebene Linie aus Ankara ist, die dann hier immer wieder erzählt wird.
    Müller: Gibt es da wirklich - ich kann Sie das nur so spekulativ fragen - kein Nachdenken, oder dürfen diejenigen nicht darüber reden?
    Keller: Das ist eine spannende Frage. Das haben wir versucht rauszukitzeln. Das scheint aber sehr schwer, weil man auch keine Antwort in irgendeinem Sinne bekommt. Aber es gibt auch viel Unterstützung für die AKP-Regierung. Es gibt tatsächlich noch viele Leute, die denken, dass das alles Terroristen sind, und das macht es nicht einfacher, in dieser Situation einen Dialog wiederherzustellen. Die Seiten sind sehr verhärtet. Das bekommen wir mit. Die Regierung sagt, die PKK ist schuld, und überhaupt, das sind alles Terroristen hier. Auch was wir als zivilgesellschaftliche Organisationen sehen würden oder als Vertreterinnen und Vertreter aus den Gemeinden, das seien alles nur Terroristen, mit denen könne man nicht reden. Wir haben stets dazu aufgerufen, dass beide Seiten wieder an den Verhandlungstisch zurückkehren, aber es scheint, dazu wirklich keine Bereitschaft vonseiten der Regierung zu geben, und das ist unglaublich schade, denn der Friedensprozess war ja wirklich sehr weit gediehen.
    "Auch die moderaten Gruppen werden ins Abseits geraten"
    Müller: Gehen wir vielleicht auf den Punkt, Frau Keller, noch mal etwas genauer ein. Sie sagen, da sind auch viele Leute, die davon ausgehen, dass das wirklich ein Kampf gegen den Terror, gegen die Terroristen ist. Ich gehe davon aus, mit "Leuten" meinen Sie jetzt die normale, einfache Bevölkerung, die jetzt nicht politisch in Funktion ist, politisch involviert ist. Differenziert die kurdische Bevölkerung zwischen dem kurdischen Freiheitskampf oder dem Freiheitsbestreben und der PKK als Terrororganisation?
    Keller: Wenn ich "normale Leute" sage, dann meine ich, dass ja die AKP in der letzten Wahl auch eine große Unterstützung bekommen hat. Die türkische Gesellschaft ist sehr gespalten und es gibt genauso viele normale Menschen, die sehen, dass man mit Panzern in Innenstädten nicht weiterkommt, dass es nicht alles Terroristen sein können. Wenn Minderjährige umkommen, wenn ältere Frauen erschossen werden auf der Straße, spielende Kinder, dann können das nicht Terroristen sein. Und die Bilder, die wir aus Cizre zum Beispiel bekommen, die erinnern uns ja an Aleppo. Das ist in jedem Fall unproportional und es ist in der Tat schwierig auszumachen, wo ist jetzt genau der Unterschied. Natürlich haben viele Kurdinnen und Kurden auch Sympathien mit gerade jüngeren Menschen, die jetzt sagen, ich habe genug davon. Aber da muss man auch unterscheiden zwischen denen, die vielleicht auf der Straße protestieren, die sich laut äußern gegen die Regierungspolitik, aber das heißt nicht sofort, dass die irgendwelchen Terrorgruppen angehören oder dass die Waffen besitzen und damit schießen würden. Das muss man auch noch differenzieren zwischen, sagen wir mal, Aktivistinnen und Aktivisten, die sich für mehr kurdische kulturelle und politische Möglichkeiten aussprechen, und zwischen denen, die wirklich im bewaffneten Kampf sind, und da muss man sagen, gibt es ja auch nicht nur die PKK, sondern die Ankara-Bombenanschläge sind ja anscheinend von dieser TAK durchgeführt worden, die mittlerweile auch sagt, das bekommen wir hier ja auch gesagt, dass die PKK zu soft sei, zu weich sei, weil die verhandeln wollen, weil die nicht mehr auf kompletter Abspaltung bestehen. Wir sehen auch, die, sagen wir mal, im weitesten Sinne moderaten, also verhandlungsbereiten Gruppen der Kurden werden ins Abseits geraten durch die Politik der Türkei.
    Die meisten Kurden wollen keine Abspaltung
    Müller: Lassen wir noch einmal den Blick etwas weiten, Frau Keller. Wir haben über die PKK jetzt gesprochen. Vorhin hat unser Korrespondent Thomas Bormann über die YPG gesprochen. Wir berichten häufig und regelmäßig ja auch über den Kampf der Peschmerga, alles gegen den IS gerichtet, aus unserer Perspektive jedenfalls. Wie wird das gesehen, dass die Türkei jetzt ausgerechnet gegen den amerikanischen Verbündeten YPG kämpft, gegen die syrischen Kurden?
    Keller: Das trifft hier auf sehr viel Unverständnis in dem Sinne, dass es ja eigentlich einen gemeinsamen Feind geben würde, nämlich den IS. Aber gleichzeitig sehen das viele als Teil der Strategie der Regierung in Ankara und von Erdogan, nämlich alles zu tun, damit die Kurden kein eigenes Staatsgebilde haben, weder diesseits noch jenseits der Grenze, und auch, um Kurden zu schwächen. In dem Sinne passt das dann auch in das Gesamtbild.
    Müller: Wir haben nicht mehr viel Zeit, ich frage sie das trotzdem. Die meisten Kurden, die Sie getroffen haben, wollen ein Kurdistan?
    Keller: Nein. Es geht zum Beispiel bei den Vertretern der HDP, einer nicht nur kurdischen, aber auch kurdischen Partei, überhaupt nicht um Abspaltung, sondern es geht um mehr kulturelle Rechte, um mehr politische Mitentscheidung. Es geht eigentlich um Föderalismus in unserem Sinne. Eine Abspaltung, das will ja nicht mal die PKK mehr.
    Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk die Grünen-Politikerin Ska Keller, Fraktionsvize im Europäischen Parlament. Wir haben sie im Osten der Türkei erreicht. Vielen Dank, dass Sie für uns Zeit gefunden haben.
    Keller: Ich danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.