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Tumorentöter oder Menschengift?

Medizin.- Ein günstiges Krebsmittel, das Tumorzellen tötet und gesunde Zellen schont? Das schien nach einer Veröffentlichung im Jahr 2007 tatsächlich möglich - allerdings nur bei Ratten. Ob das Ganze auch beim Menschen funktioniert, wurde nun erstmals in einer Studie getestet.

Von Kristin Raabe | 18.05.2010
    Einige Krebspatienten sehen in einem ziemlich gewöhnlichen Molekül ihre letzte Chance: Dichloressigsäure, kurz DCA, ist in jedem Chemiehandel billig zu bekommen. Mit Wasser verdünnt haben es sich in den letzten drei Jahren etliche Krebspatienten selbst verabreicht. Kein Arzt hätte ihnen die Substanz verschrieben, denn bislang ist ihre Wirksamkeit wissenschaftlich nur in Tierexperimenten belegt worden. Ob sie auch in Menschen Tumorzellen bekämpfen kann, hat Evangelos Michelakis von der Universität von Alberta in Kanada jetzt erstmals wissenschaftlich untersucht. Er verabreichte Patienten mit Hirntumoren DCA. Vor und nach der Behandlung entnahm er Gewebeproben ihrer Tumore und konnte so sehen, wie die Substanz auf die Krebszellen in lebenden Menschen wirkt. Sie verändert den Stoffwechsel der Zellen.

    "Das Wichtige an unserer Studie ist, dass wir im Menschen zeigen konnten, wie es sich auswirkt, wenn der Stoffwechsel der Tumorzellen verändert wird. Es geht also gar nicht nur um die Substanz DCA. Vielleicht werden schon bald andere Substanzen entwickelt, die ähnliche Wirkmechanismen haben. Das ist jetzt ein ganz neuer Trend in der Krebsforschung."

    Krebszellen gewinnen ihre Energie über Stoffwechselprozesse, die im Plasma der Zelle stattfinden. Die eigentlichen Kraftwerke der Zelle, die sogenannten Mitochondrien, sind bei Tumorzellen vergleichsweise inaktiv. DCA heizt diese Kraftwerke wieder an. Wenn die Mitochondrien wieder arbeiten, werden aber auch Prozesse in Gang gesetzt, durch die die Krebszelle ihre Unsterblichkeit verliert. Sie wird regelrecht in den kontrollierten Zelltod getrieben. Allerdings ist im Moment noch unklar, ob dieser Effekt tatsächlich auch zur Heilung von Krebs führen kann.

    "In einigen Patienten sind die Tumore geschrumpft, bei anderen nicht mehr weiter gewachsen. Ein Patient starb nach drei Monaten. Wir haben inzwischen aber festgestellt, dass es drei Monate dauert, bis sich genug DCA angereichert hat, um die Tumore anzugreifen. Wenn ein Tumor also sehr aggressiv ist und schnell wächst, wirkt DCA nicht schnell genug. Einige unserer Patienten haben aber länger als erwartet überlebt. Es gibt also Gründe für einen vorsichtigen Optimismus. Letztlich kann aber unter diesen Bedingungen noch niemand sagen, ob DCA tatsächlich wirksam ist."

    Einige der behandelten Patienten erhielten zusätzlich noch eine Chemotherapie. Es ist also nicht sicher, ob das Schrumpfen der Tumore tatsächlich auf die Behandlung mit DCA zurückzuführen ist. Eine Placebogruppe gab es in dieser Studie nicht. Das kritisieren Ärzte, die ebenfalls an der Behandlung von Hirntumoren forschen. Der Neurologe Michael Weller vom Universitätsspital Zürich beispielsweise würde keinem Patienten außerhalb von klinischen Studien zu einer Behandlung mit DCA raten. Grundsätzlich hält er den Versuch, den Zellstoffwechsel der Tumore zu verändern aber für sehr interessant. Ein Vorteil dieser Behandlung besteht darin, dass normale Zellen von DCA nicht angegriffen werden. Das zeigen ebenfalls Experimente, die Evangelos Michelakis an Proben von gesundem menschlichem Hirngewebe durchgeführt hat. Allerdings heißt das noch lange nicht, dass die Substanz völlig unbedenklich ist. Ist die Dosis in der Therapie zu hoch, können Nervenfasern zumindest vorübergehend geschädigt werden und es kann zu Schmerzen oder Taubheitsgefühlen in Beinen oder Armen kommen. Weil DCA von verschiedenen Menschen ganz unterschiedlich abgebaut wird, muss die richtige Dosis für jeden Patienten individuell bestimmt werden.

    "Es ist also unmöglich, diese Substanz ohne Überwachung einzunehmen. Ein normaler Arzt kann die Konzentration von DCA im Blut nicht messen. Ohne einen solchen Test besteht aber immer die Gefahr, dass sich im Blut eine hohe Konzentration von DCA anreichert, die dann giftig ist."

    Bei einer Behandlung mit Dichloressigsäure, also DCA, muss also regelmäßig das Blut des Patienten kontrolliert werden. Es sind in jedem Fall noch größere klinische Studien nötig, um zu klären, wie wirksam die Substanz tatsächlich gegen Krebs ist.