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Tunneleffekt macht Katalyse möglich

In unserem Alltag spielt die Quantenmechanik meist keine Rolle, denn sie gilt nur für sehr kleine Dinge wie Atome. Umso wichtiger ist sie aber in der Chemie. In den letzten Jahren sind Computersimulationen möglich geworden, die zeigen, was quantenmechanische Effekte zum Beispiel zur Katalyse beitragen.

Von Hellmuth Nordwig | 12.08.2013
    Wirft man einen Ball an die Wand, dann prallt er zurück. Doch in der Welt der Quantenmechanik ist das nicht unbedingt so, sagt Johannes Kästner, Professor an der Universität Stuttgart.

    "In manchen seltenen Fällen kann es sein, dass der Ball einfach durch die Wand durchfliegt, so als wäre die Wand nicht da, und er würde keine Geschwindigkeit ändern, keine Energie ändern und einfach durch die Wand durchfliegen. Das passiert bei Bällen natürlich nicht in Wirklichkeit, aber wenn man zu kleineren Systemen übergeht, vor allem zu Atomen und Elektronen: Dort bewegen sich die Teilchen wirklich quantenmechanisch und können dann durch Energiebarrieren, also Wände durchtunneln."

    Der Stuttgarter Chemiker untersucht, welche Rolle der Tunneleffekt in der Chemie spielt. Denn bei chemischen Reaktionen müssen Teilchen eine Mauer überwinden – die Fachleute sprechen von einer Energiebarriere. Normalerweise tun die Atome das, wenn eine bestimmte Temperatur überschritten wird und sie die nötige Energie aufgenommen haben. Doch im Weltraum, bei Temperaturen knapp über dem absoluten Nullpunkt, ist das nicht möglich. Aber auch dort finden chemische Umsetzungen statt. Zum Beispiel, wenn die kleinsten Atome überhaupt, nämlich Wasserstoffatome, zu einem Wasserstoff-Molekül reagieren. Daran sind die nanometergroßen Staubteilchen im Universum beteiligt, wie Johannes Kästner herausgefunden hat.

    "An der Oberfläche von solchen Staubteilchen können sich Wasserstoffatome anlagern und dort dann Wasserstoffmoleküle bilden. Das Anlagern dieser Atome ist energetisch schwierig. Da gibt es eine Energiebarriere. Das heißt, bei den tiefen Temperaturen, die im Weltraum eine Rolle spielen, wäre es für Wasserstoffatome sehr schwierig, sich an solche Staubpartikel anzulagern. Da spielt der Tunneleffekt eine Rolle: Indem diese Barriere untertunnelt werden kann, können Wasserstoffatome sich dann direkt auf solche Staubteilchen anlagern."

    Der Staub bildet dabei keine Barriere, sondern er wirkt als Katalysator, der die chemische Reaktion zu Wasserstoffmolekülen erst möglich macht. Und die kann im Weltall nur dank des Tunneleffekts ablaufen. Das zeigen zumindest Johannes Kästners Computersimulationen. Der experimentelle Nachweis ist allerdings auf der Erde nicht möglich. Zwar können die Forscher Staubteilchen aus rußartigen Kohlenstoffschichten herstellen, wie sie im Weltraum vorkommen. Doch anders als dort haben sie nicht Jahrmillionen Zeit für ihre Experimente, und sie können auch kein Vakuum erzeugen, in dem die Teilchen derart dünn gesät sind wie im All.

    "Aber Facetten davon sind experimentell durchaus machbar: Man kann das bei höherem Druck machen – das ist immer noch sehr hohes Vakuum, aber deutlich höherer Druck als im Weltraum. Man kann die Temperatur erhöhen, und damit würde sich die ganze Reaktion beschleunigen. Damit kann man untersuchen, dass gerade an den Rändern von solchen Kohlenstoffschichten die Reaktivität besonders hoch ist. Da weiß man dann: Wasserstoff absorbiert dort. Das kann man experimentell, spektroskopisch nachweisen. Man kann nicht leicht nachweisen, nach welchem Mechanismus Wasserstoff wirklich absorbiert, aber die Ergebnisse sind gleich. Damit kann man annehmen, dass auch der Mechanismus halbwegs ähnlich ist."

    Auch auf der Erde sind Wasserstoffatome häufig an chemischen Reaktionen beteiligt. Zum Beispiel bei vielen Enzymen, den Katalysatoren in unseren Zellen. Die arbeiten zwar bei Raumtemperatur, und es sind auch viel mehr Teilchen unterwegs als im Weltraum. Trotzdem spielt der Tunneleffekt bei Enzymen eine Rolle, wie Johannes Kästner mit seinen Simulationen gezeigt hat.

    "Da ist vor allem das Enzym Glutamatmutase, das wir uns angesehen haben, bei dem wir berechnet haben, wie stark beschleunigt der Tunneleffekt die Reaktion. Das kann man experimentell nicht direkt nachweisen, weil man im Experiment den Tunneleffekt nicht ein- und ausschalten kann. In den Rechnungen können wir das. Und da beschleunigt der Tunneleffekt die Reaktion um einen Faktor zehn. Das klingt zwar viel, ist für Enzymreaktionen nicht besonders viel, da typische Enzyme eine Reaktion um einen Faktor von einer Million oder einer Milliarde beschleunigen können."

    Bei Enzymen ist es also fast immer so, wie wir es aus dem täglichen Leben gewohnt sind, wo Bälle von einer Mauer zurückprallen: Der Tunneleffekt kann bei der irdischen Katalyse in der Praxis vernachlässigt werden.