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Tweetup-Aktion zum Kriegsende
140 Zeichen geballte Geschichte

Am 8. Mai jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 70. Mal. Anlässlich dieses Datums fand in Bonn ein sogenanntes Tweetup statt: Die Teilnehmer trafen sich im Haus der Geschichte, um an die verschiedensten Ereignisse aus den letzten Kriegsmonaten zu erinnern - via Twitter.

Von Christoph Ohrem | 04.05.2015
    Ein Mann öffnet auf seinem Smartphone seinen Twitter-Account.
    Die Herausforderung: Komplexe historische Sachverhalte in 140 Zeichen zu transportieren. (dpa / Andrew Gombert)
    "Es gab keine Form der modernen Kommunikation und deshalb muss man es ganz, ganz herkömmlich machen. Dann gibt es diese Möglichkeit: 'Kommen Sie mal rum... Der Zettel. Annette Morlock aus Erfurt: Gesucht. Auskunft an Otto Morlock...'"
    Gut 70 Personen nehmen an dem Tweetup mit dem Hashtag Kriegsende teil. Dichtgedrängt stehen die Twitterer um Holger Pützstück herum. Er führt durch den Teil der Dauerausstellung im Haus der Geschichte in Bonn, der das unmittelbare Kriegsende des Zweiten Weltkriegs behandelt. Ann-Kristin Sass twittert an dieser Stelle:
    "Ohne smartphone und facebook musste man seine vermissten Angehörigen durch Aushängeschilder suchen #kriegsende #moderne."
    Gleich neben der Wand mit den Zetteln, steht ein großer Karteikasten. In den kleinen Boxen sind etwa 300.000 Vermisste handschriftlich aufgeführt. Karin twittert ein Foto davon und schreibt: "Später übernahm das Rote Kreuz die systematische Suche #kriegsende."
    Während Tweetups im Museumsbereich für bildende Kunst und in Theatern inzwischen nichts Besonderes mehr sind, sieht das für die Geschichtsvermittlung in Deutschland anders aus. Insofern ist das Tweetup Kriegsende auch ein Pilotprojekt. Das Tweetup widmete sich nicht nur der Dauerausstellung im Haus der Geschichte. Auch ein ambitioniertes Projekt junger Historiker war Teil der Veranstaltung. Unter dem Titel "digitalpast" twittert ein Team von Nachwuchswissenschaftlern Nachrichten aus der Vergangenheit. In quasi-Echtzeit – um 70 Jahre verschoben – speisen sie historische Ereignisse in die Timeline ihrer Follower ein. Mitinitator des Projektes ist der Heidelberger Historiker Moritz Hoffmann:
    "Es gibt noch keinen feststehenden Begriff, der sich im Konsens herausgebildet hat. Viele nennen das twistory. Manche nennen es reentweetment. So wie in reenactment. Das ist eigentlich auch ein ganz treffender Begriff. Grundsätzlich ist es die Aufsplittung von Ereignisgeschichte in einzelne Tweets von 140 Zeichen."
    Tweets mithilfe von Ereignisinseln thematisch ordnen
    Seit Anfang Januar läuft das Projekt von digitalpast. Sie haben inzwischen fast 12.000 Follower. Auf Twitter hat man aufgrund der Kürze der Nachrichten wenig Raum, Kontexte zu schaffen oder Erklärungen zu liefern. Deshalb hat das Team beschlossen, der Übersicht halber sogenannte Ereignisinseln darzustellen. So wird nicht alles wild durcheinander getwittert, was in den hektischen letzten Monaten des Krieges geschehen ist. Eine Auswahl findet statt. Prominent etwa die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Zu einer solchen Ereignisinsel gibt es dann an einem Tag mehrere Tweets. Besonders erfolgreich sind Tweets, die sich auch ohne Kontext verstehen lassen.
    "Eva Hitler nimmt Gift, Adolf Hitler erschießt sich."
    Der bislang erfolgreichste Tweet vom 30. April wurde 238 Mal retweetet. Eine solche Nachricht, selbst mehrere Nachrichten in zeitlich schneller Abfolge liefern keine wissenschaftliche, nicht einmal populärwissenschaftliche Einordnung. Deshalb ergänzen die Mitarbeiter von digitalpast ihre Twitter-Aktion mit einem Buch, das denselben Titel trägt wie der Twitter-Account: "Heute vor 70 Jahren". Moritz Hoffmann erklärte beim zweiten Teil des Tweetups in einer Diskussion über das Projekt sehr freimütig, warum das Buch nicht nur für die historische Einordnung der Twitter-Aktion wichtig war:
    "Es hätte alleine deswegen schon nicht funktioniert, weil wir das ohne das gewisse finanzielle Einkommen aus dem Buch nicht hätten stemmen können. Ich bin zwischen 15 und 20 Stunden die Woche noch mit diesem Twitter-Account beschäftigt. Das würde ohne nicht gehen. Ich glaube, man kann solche twistory nicht machen, ohne auch auf längerem Raum solche Kontexte zu präsentieren."
    Neben dem finanziellen Aspekt soll so auch der historischen Genauigkeit Rechnung getragen werden. Soviel Engagement und Mut, neue Wege in der Geschichtsvermittlung zu beschreiten, nötigt der Netzgemeinde Respekt ab. Neben den üblichen Tweets sind die historischen von digitalpast durchaus in der Timeline erwünscht. So twitterte etwa Indira Koffer:
    "Die Tweets von @digitalpast als historische Stolpersteine in der Timeline? Mir gefällt's! #kriegsende"
    Nach dem digitalen Austausch gab es im Anschluss an das Tweetup auch den realen.
    "Für mich ist es auf jeden Fall überzeugend, weil man das in die heutige Zeit holt. Und das so in Echtzeit besser nachempfinden kann. Dass es einfach für einen realer dargestellt wird, als wenn man sich das in alten staubigen Geschichtsbüchern durchliest."
    "Die Form der Geschichtsvermittlung ist ganz hervorragend. Mal was Neues. Und nicht immer nur vertextlichtes Altes."
    Bei so viel positivem Zuspruch online wie offline ist dennoch klar: Sowohl die Onliner im Haus der Geschichte als auch digitalpast werden weitere twistory-Projekte starten. Bis dahin twittern digitalpast aber erstmal bis Anfang Juni auf dem Account "Heute vor 70 Jahren" weiter Ereignisinseln.