Am 18. Juni 2020 vermeldete die Büchermarkt-Redaktion über den Twitterkanal @DLF_Buch den Tod des tschechischen Schriftstellers Milan Kundera. Diese Nachricht war falsch und zugleich Ausgangsmoment einer umfangreichen Recherche. Zuvor hatte die falsche Meldung über den angeblichen Tod des Georg-Büchner-Preisträger Hans Magnus Enzensberger für Aufsehen gesorgt, nachdem die renommierte Neue Zürcher Zeitung diese per "Push-Nachricht" auf alle Smartphones der "NZZ-News-Benachrichtigungen" gesendet hatte – mit einem Link zum Nachruf. 17 Minuten später wurde diese Nachricht wieder zurückgenommen.
Hört man sich in den einzelnen Literatur- und Feuilleton-Redaktionen um, dann gibt es zahlreiche Fälle, bei denen man zumindest kurz davor war, eine solche Meldung zu übernehmen, vor allem in den News-, Online- und Hörfunkredaktionen, in denen eine besondere Geschwindigkeit der Informationsbewertung gefragt ist.
Die Literaturredaktionen sind alarmiert
Hinter diesen Meldungen steckt ein gewisser Tommaso Debenedetti. Unrühmliche Berühmtheit erlangte er Anfang der 2000er Jahre durch zahlreiche gefälschte Interviews mit berühmten Persönlichkeiten, die er in internationalen Zeitungen und Magazinen platzieren konnte. Seit er aufgeflogen ist – übrigens durch den Autor Philip Roth, der über ein solches, angeblich von ihm selbst stammendes, gefälschtes Interview stolperte –, kapriziert Debenedetti sich darauf, falsche Todesmeldungen zu twittern.
Angefangen hat er mit Todesmeldungen von Politikern: etwa Putins oder des syrischen Herrschers Assad und dessen Frau – was sogar zu Reaktionen an den internationalen Börsen geführt hat. In einer zweiten Phase fokussierte er sich auf kirchliche Würdenträger: Papst Benedikt XVI, aber auch deutsche Bischöfe und Kardinale wie Kardinal Marx.
Erst seit einiger Zeit hat er sich jetzt auf Literatinnen und Literaten konzentriert: Handke, Jelinek, Kundera, Enzensberger – einige mehr. Wobei man sagen muss, dass er derzeit wieder neuen Interessen nachgeht, vermutlich auch, – weil fast alle Literaturredaktionen alarmiert sind, wenn eine Todesmeldung auftaucht.
Eine hohe Erregungskultur
Kurioserweise ist das Vorgehen von Debenedetti seit Jahren bekannt. Mehrere große Zeitungen und Magazine vom Guardian bis zum New Yorker, aber auch Fernsehstationen haben ausgiebig darüber berichtet. In Deutschland etwa hat seit 2016, als Debenedetti einen Fake-Account des Kardinals Marx eingerichtet hatte, der Journalist Felix Neumann vom Portal "katholisch.de" kontinuierlich und auf herausragende Weise zu dieser Thematik gearbeitet. Er hat sogar eine Art "Erkennungs-Dienst" erarbeitet, mit dessen Hilfe Redaktionen die falschen Todesmeldungen als solche erkennen können. Eine Eingabe in die Suchmaschine genügt, um diese Informationen zu erhalten.
Man könnte sagen, dass diese Todesmeldungen einfach nur geschmacklos sind. In diese Richtung gehen viele Reaktionen. Typisch ist etwa der Tweet der Nutzerin "Edith Mair" nach der Jelinek-Meldung: "Grausam und widerwärtig, Todesmeldungen über einen Menschen zu verbreiten", urteilt sie knapp. Wobei man an der heftigen Reaktion sieht, wie hohe Erregungspotential Debenedetti mit seinen Tweets erzeugt.
Diese Emotionalität ist hoch interessant, weil sie etwas über unsere Erregungskultur per Twitter sagt. Etwa wenn der Verleger des Hanser-Verlages Jo Lendle, der sich seinerseits sehr gerne auf Twitter bewegt, nach der Meldung zu Herta Müller twittert:
"Herta Müller ist wohlauf, ich telefoniere gerade mit ihr. Sie putzt auf dem Balkon ihre Schuhe und ist froh, am Leben zu sein. (Ich allerdings vertrage diese andauernden Twitter-Todesmeldungen nicht gut.)"
Hier twittert der Chef noch selbst
Diese Reaktion zeigt sehr schön, was die Meldungen im literarischen Feld auslösen: In der Politik erzeugen Debenedettis falsche Todesmeldungen komplett andere Wirkungen, aber auch Erzählungen als innerhalb der literarischen Öffentlichkeit. Diese Spezifik von Reaktionen und Wirkungen wollte ich nachgehen. Denn während in der Politik plötzlich der Börsenkurs reagiert, findet Jo Lendle eine existentialistische Erzählung.
Schon aufgrund ihrer Unprofessionaliät – hier antwortet keine Presseabteilung, sondern ein Verleger, der selbst mal schnell bei seine Nobelpreisträgern durchgerufen haben will – fragt man sich unweigerlich: Ist die Erzählung echt? Herta Müller putzt ihre Schuhe auf dem Balkon? Immerhin nicht wie bei Van Gogh und Heidegger ihre Holzschuhe, so nehme ich an. Und sie freut sich ihres Lebens. Während der Twitter-affine Verleger eine Twitter-Unverträglichkeit entwickelt?
Debenedetti selbst und die Journalisten, die bislang über das Phänomen gearbeitet haben, heben vor allem den medienkritischen Aspekt hervor: Es ginge um eine spezifische Form, um das Arbeiten in den Redaktionen und den schlechten Zustand der "Verifizierung von Informationen". Das stimmt. Felix Neumann, der Journalist, der sich in Deutschland am besten mit Debenedetti auskennt, hat mir gegenüber noch einmal stark gemacht, dass Debenedetti:
"bei den Literaturen nun ein günstiges Milieu gefunden zu haben scheint: Da gibt es viele öffentlich zugleich präsente und abwesende Charaktere, denen man abnimmt, sich plötzlich auf Twitter anzumelden, und es gibt eine Fanbasis, die mit Interesse und Begeisterung dabei ist, zudem kann man das jeweilige symbolische Kapital der einzelnen Autoren auch noch abgreifen. [...]
Und wenn Herta Müller keine Schuhe putzt?
Was auch noch hinzu kommt: Viele Verlage sind selbst nicht übermäßig gut auf Twitter aufgestellt. Selbst ein Verlag wie Suhrkamp braucht viel zu lange, um mit einem Dementi zu reagieren.
Man sieht schon aufgrund dieser Außensicht auf die Literarische Öffentlichkeit, dass diese Twitter-Fälle auch etwas über die literarischen Institutionen und ihre Entscheidungs-Strukturen erzählt. Bei Hanser ist das Twittern und Anrufen per Handy noch Chefsache. Was würde geschehen, wenn Herta Müller mal gerade nicht ihre Schuhe auf dem Balkon putzt – und ihr Handy ausgestellt hat?
Es gibt eine ästhetische Dimension
Todesmeldungen entsprechen einer bestimmten Form des Erzählens. Ihre Leser vertrauen darauf, dass dieser Erzählweise Fakten unterliegen. Sie erzählen, was ist. Sie legen Zeugnis ab vom Umschlagen des Lebens in den Tod: der sogenannten Anatrope! Diese Anatrope hat eine bis in die antike Erinnerungsliteratur und Rhetorik zurückreichende Tradition, die Debenedeti mit seinen Tweets gleichsam aufruft. Das Erzählen vom Abwesenden, das durch die Literatur noch einmal Anwesenheit erhält, bildet eine der Urformen des Literarischen.
Aber die Literatur hat nicht immer nur einfach von dem Übergang zum Tod erzählt. Sie hatte stets auch größtes Vergnügen daran, dass faktuale Erzählen der Todesmeldungen in fiktionales Erzählen umzukehren: Denken Sie nur an die Vielfalt der Romane, die von falschen Todesmeldungen erzählen und daraus ihre Geschichten entspinnen. Etwa wenn sich in Jean Pauls großartigem Eheroman "Siebenkäs" der Protagonist aus den Fängen seiner Ehe befreit, um irgendwann die Meldung des eigenen Todes vor sich zu haben – verkündet ausgerechnet in einer Satire-Zeitschrift, in der er selbst publiziert hat. Wenn einem da kein Schauer über den Rücken läuft.
Von Knausgard zu Wirecard
Die Literatur fristet kein Dasein als Unschuldslamm. Sie hat die Grenzüberschreitungen oder -verwischungen wie sie Debenedetti jetzt betreibt, selbst lustvoll betrieben. Daher treffen diese Nachrichten – die ich deshalb längst nicht gut heiße – auf einen spezifischen Resonanzraum. Sie tauchen auf in einer Zeit, in der es in der Literatur immer authentischer zugeht – beispielsweise bei Karl Ove Knausgard oder an Annie Ernaux. Während die Fakenews etwa von Politikern das Fiktive inszenieren, ist das eine neue und besonders reizvolle Konstellation. Es ist eben kein Zufall, dass unter anderem im Wirecard-Skandal die Diskussion aufkam, ob auch eine Todesmeldung nur gekauft wurde. Die Journalistin Elisabeth Greenwood hat in ihrem Buch "Playing Death" gezeigt, dass ein solch vorgetäuschter Tod in manchen Ländern für etwa 80 Euro zu haben ist. (Eine Leiche zur Sterbeurkunde kostet extra.)
Die Erregungskultur, die wir hier beobachten können, ist einer bestimmten Wirkungsästhetik. Walter Benjamin formulierte mit dem Blick auf den Dadaismus etwa, dass diese Kunstwerke nicht mehr das Betreten eines Bildraumes erlauben würden. Statt den Betrachter eintreten zu lassen, griffen Sie auf ihn über: und zwar brutal, gewalttätig, "wie ein Geschoss", so lautet Benjamins Vergleich.
Tatsächlich arbeitet Debenedetti ähnlich. Er verfährt nämlich immer gleich. Und zwar nach einem minimalistischen Programm. Er eröffnet einen Twitter-Account im Namen eines berühmten Literaten – wie Peter Handke. Es folgt eine Begrüßungstweet, dann sehr bald die Todesnachricht über diesen Kanal. Darauf die Auflösung des Falls als "gefälscht". Serialität, Wiederholung, Reproduktion des Immergleichen: Felix Neumann deutet diese Einfachheit als Provokation: "ich muss noch nicht einmal "ausgefuchst" vorgehen, um erfolgreich täuschen zu können. Und es wäre ja ein leichtes, sich ausgefeiltere Täuschungsstrategien auszudenken. Als z.B. auch immer nur Twitter zu benutzen. Aber Debenedetti tut das nicht.
Debenedetti bleibt der große Unbekannte
Ich würde sagen: weil er an das ästhetische Konzept des Dadaismus und der Avantgarde der Moderne anknüpft. Samt deren Wirkungsstrategie, "dem Betrachter zustoßen zu wollen" – was dann entweder "Widerwärtigkeites-Reaktionen", oder wie bei Jo Lendle "Unverträglichkeit" auslöst, die auch wieder per Tweet verbreitet wird.
Allerdings hat sich Debenedetti zu derartigen ästhetischen Fragen nie geäußert. Ich hätte ich ihn gerne persönlich getroffen. Es heißt schon längere Zeit, er lebe in Rom und er selbst sagt, er arbeite dort als Lehrer an einer Privatschule. Ob das stimmt, kann ich allerdings nicht sagen. Jüngst bekam ich aus – wie ich fand – glaubwürdiger Quelle den Hinweis, dass ich ihn in Rom treffen könnte. Ich bin also dorthin gefahren. Aber zu einem Treffen kam es nicht. Vielleicht habe ich auch von vornherein nicht mit der richtigen Person kommuniziert?
Entzug der eigenen Identität
Die Recherche bleibt daher im Progress, vergleichbar mit Quellen, die man in einem Archiv sichtet und währenddessen auch nicht das findet, was man eigentlich finden wollte. Dann ist die Forschungslage zwar verändert, aber dadurch mitunter noch faszinierender. Ich würde also sagen: Man sieht an der Rom-Geschichte, wie wichtig das Arbeiten von An- und Abwesenheit, von persönlichem Kennen und Entzug der eigenen Identität für unsere medialen Inszenierungen ist – Für Debenedettis Arbeiten ebenso wie für etwa die Möglichkeit des Verlegers, die persönliche Nummer von Herta Müller wählen zu können.
Am Ende ist es also im potentiell endlosen Spiel der Verweise, der persönlichen Kontakt, man könnte sagen der "Body that matters", der in eine entscheidende Position rückt. Das ist eine hochgradig interessante Konstellation, über die es noch viel zu erforschen gibt.