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Über Essen und Selbstmord

Ein Roman ist "Leibspeise" von Kristian Ditlev Jensen nicht, eher eine Art Gebäude, dessen Bausteine lauter Episoden, Stimmungen, Anekdoten sind, wie zufällig zusammengefügt. Man wird den Eindruck nicht los, dass hier einer auf der Stelle tritt, das Buch hat Längen. Überragend allerdings ist Jensens eminente Sprachbeherrschung.

Von Peter Urban-Halle |
    Vor gut zehn Jahren legten vier junge dänische Filmemacher ein so genanntes Keuschheitsgelübde ab: Ihre Filme sollten nur noch an Originalschauplätzen und mit der Handkamera aufgenommen werden, Nachsynchronisieren, künstliches Licht und musikalische Untermalung waren verboten. Der Dogma-Film war geboren, schlank, ungeschminkt, pures Kino. Die junge dänische Literatur scheint in dieser Zeit eher in die entgegengesetzte Richtung aufgebrochen zu sein, jedenfalls die ins Deutsche übersetzte: sie wurde immer opulenter, pastoser und umfangreicher. In letzter Zeit erschienen breite Gesellschaftsromane über das Kopenhagen um 1900, breite Mobbing-Thriller aus der Angestelltenszene oder breite Familiensagas des 20. Jahrhunderts. Nun macht der 35-jährige Kristian Ditlev Jensen das Breite und Dicke sogar zum Ereignis selbst: Sein Held ist ein alles verschlingender, 120 Kilogramm schwerer Restaurantkritiker.

    Robin McCoy, ein Däne mit englischem Vater, frisst und säuft sich durch die Herrlichkeiten dieser Welt. Egal worum es geht, um ein "supermildes Lamm Passanda" mit getrocknetem Obst, geriebener Kokosnuß und frisch gemahlenen Nüssen, um das Geheimnis eines richtig gerührten Dry Martini oder um die Künste portugiesischer Zuckerbäcker, alles muss enthüllt und probiert werden. Das Problem ist nur, dass das Gewicht, das McCoy sich anfuttert, nicht nur beruflich bedingt ist, sondern mindestens zur Hälfte aus Kummerspeck besteht. McCoy leidet an einem schweren Trauma. Vor einigen Jahren starb seine japanische Frau Midori, die selber Köchin war, sie starb nach ihrem vierten Selbstmordversuch, eine blutige Angelegenheit, sie schnitt sich die Pulsadern in der Badewanne auf, nun rinnt das Blut leitmotivisch über die Seiten, nun erinnert jede Reise, jeder Spaziergang, aber vor allem jedes Gericht den Profigourmet an diese Frau, die er über alles geliebt hat. Wie kommt ein Autor auf eine solche Verbindung von luxuriösem Essen und Selbstmord? Kristian Ditlev Jensen:

    "”Tatsächlich wollte ich am Anfang ein Buch nur über den Selbstmord schreiben, aber ich fand, das würde zu deprimierend, zu tragisch, es sollte ein bisschen Leben dabei sein. Zuerst dachte ich an einen Blumenbinder, aber die Vorstellung blühender Blumen im Garten war mir dann zu klischeehaft, und dann fiel mir der Ausdruck 'das tägliche Brot' ein, diese Verbindung des Alltags mit dem Leben und mit der Arbeit. Außerdem kam ein persönlicher Punkt hinzu, mein Vater ist nämlich Konditor, ich bin also mit einer Masse Essen um mich herum aufgewachsen.""

    McCoys Geschmacksnerven sind sein Kapital, mit ihnen verdient er sein Geld. Deshalb ist die Verzweiflung groß, als er die Nahrung nicht mehr bestimmen und auseinanderhalten kann. Und ausgerechnet so fängt der Roman an: Auf der Fahrt zu einem Gastroseminar in Italien hört er zufällig eine CD seiner toten Frau, ihm schwinden die Sinne, und er wacht in einer Nervenklinik wieder auf, wo er mit Erdbeeren gefüttert wird. Das Schlimme: Sie schmecken nach allem Möglichen, er kann sich nicht recht entscheiden. Und schließlich:

    "Die Erdbeere schmeckt nach Obst. Oder nach Fleisch, ein bißchen nach gewässertem Fleisch. Oder nur nach Wasser. Sie schmeckt nach rotem Wasser. Nach Blut beinahe und nach Fleisch und nach schwarzem Haar, schwarzem Haar im Essen, wenn man es am wenigsten erwartet. Genau da, mitten im Essen ein großes langes schwarzes Haar. Es schmeckt nach Scheiße am Bein und Pisse. Nach einem Menschen, der ausläuft, auf die Kacheln im Badezimmer.''"

    Die Saite, die hier gleich zu Anfang angeschlagen wird, ertönt nun 415 Seiten lang. Es ist der immergleiche Gewaltmarsch durch die Küchen der Welt, verbunden mit den zwanghaften Erinnerungen an Midori, an ihre Kochkünste, an ihren erregenden Körper, an ihre witzigen Spracherkundungen und an ihren unerklärlichen Tod. Ein Roman ist das nicht, eher eine Art Gebäude, dessen Bausteine lauter Episoden, Stimmungen, Anekdoten sind, wie zufällig zusammengefügt, der Sound, wie man heute sagt, nähert sich ganz gefährlich dem des Leierkastens, man wird den Eindruck nicht los, dass hier einer auf der Stelle tritt, das Buch hat Längen, und in welcher Zeit man sich befindet, ist manchmal schwer zu bestimmen. Und doch gibt es eine Entwicklung: Über einen schrecklichen, aber gewissermaßen kathartischen Alptraum, in dem er selbst seine Frau schlachtet, kommt er sich wieder nahe. Am Schluss nimmt Jensen das Motiv des schwarzen Haars wieder auf, das McCoy in einer "perfekten tomatisierten Béarnaise" findet - so kann er, relativ neutral, von seiner ersten Begegnung mit Midori berichten. Über die Bedeutung der Erinnerung sagt der Autor:

    ""Wenn einem etwas durch den Kopf geht, ein Gedanke, eine Erinnerung, muss einem klar sein, dass der Gedanke aus einem selbst kommt und auf dem Weg hinaus ist, er verlässt den Kopf, er dringt nicht von außen in ihn ein. Und Robins Problem ist, dass er mit seinen Gedanken und Erinnerungen nicht richtig umzugehen weiß, er kann sie nicht ausdrücken und nicht loslassen. Jemand hat seine Frau verloren und muss durch diesen schmerzhaften Prozess hindurch, in dem Gedanken und Gefühle entstehen und raus müssen; das heißt Trauer. Ich wollte einen Mann zeigen, der gefangen war und am Schluss - vielleicht nicht gerade völlig frei, aber immerhin einigermaßen ausgeglichen ist. Und dann hat man auch die Freiheit, sich zu erinnern, und zwar jetzt ganz unbelastet."

    Überragend ist Jensens eminente Sprachbeherrschung, sein virtuos eingesetzter Rhythmus, die passenden Sätze, der große Wortreichtum; Sigrid Engelers Übersetzung ist dieser Herausforderung immer gewachsen. Das alles wiegt die fehlende Handlung wieder auf. Aber der Leser wurde ja gewarnt, schon im ersten Absatz. Was Kristian Ditlev Jensen da über das Essen und das Schmecken sagt, gilt im Grunde nämlich auch für die Lektüre seines so genannten Romans:

    "Schmecken handelt davon, die eigenen Vorstellungen zu durchbrechen. Das Gegenteil dessen zu suchen, was man eigentlich suchen würde."

    Tatsächlich: Mit der üblichen Vorstellung von einem Roman darf man dieses Buch nicht aufschlagen.