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Über vier Millionen Arbeitslose im Juli 2002

Gerner: Herr Gerster, man kann schwerlich daran vorbei: die Zahl von über vier Millionen liegt fast auf einem ähnlichen Niveau wie zum Ende der Kohl-Regierung. Kann man das als Erfolg verkaufen?

    Gerster: Ein Erfolg ist das nicht. Gleichwohl ist in den letzten vier Jahren zusätzliche Beschäftigung entstanden, aber es reicht eben nicht aus, um eine Bilanz zu präsentieren, die - auch optisch - deutlich besser ist als die Bilanz vor vier Jahren war.

    Gerner: Wann werden sich denn Erfolge in der Umorganisierung Ihrer Bundesanstalt zeigen, in den Arbeitsämtern, die sich dann auch in der Statistik auswirken?

    Gerster: Man darf von der Reform der Bundesanstalt nicht die Heilung des Arbeitsmarktes im Kern erwarten. Wir können durch eine bessere Arbeit schneller vermitteln, damit die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit senken und damit auch die jahresdurchschnittliche Arbeitslosigkeit. Aber Arbeit muss im Wesentlichen durch Arbeitgeber geschaffen werden, also in der Volkswirtschaft und da kann die Bundesanstalt nur ein Akteur auf dem Arbeitsmarkt sein, aber nicht der alleinige. Da müssen andere Faktoren dazukommen; Arbeit muss nach meiner Überzeugung auch billiger werden. Die direkte Belastung des Faktors Arbeit muss durch weitere Reformen reduziert werden und viele der Reformen, die vorgeschlagen sind, müssen wirklich angepackt werden.

    Gerner: Dann hat ja der VW-Manager Peter Hartz, Hoffnungsträger der SPD, von einer Million neuer Stellen im Osten geredet, zwei Millionen insgesamt für die kommenden Jahre. Das sind Wetten auf die Zukunft, die inzwischen fast so inflationär durch die Presse gehen wie die Zahl der Firmenpleiten. Wie passt das zusammen?

    Gerster: Das, was Peter Hartz für Ostdeutschland vorgeschlagen hat, ist im Kern Wirtschaftsförderung und kann durchaus Sinn machen und ist ein interessantes Programm. Es ist aber nicht im Kern Arbeitsmarktpolitik. Wenn wir zum Beispiel durch eine erfolgreiche Arbeit und durch bessere Arbeitsmarktdaten in den nächsten Jahren einen Teil der Gelder sparen, die wir den Versicherten abnehmen müssen, dann schlage ich vor, diese Gelder auch durch Beitragskürzungen weiterzugeben. Und was dann in Ostdeutschland geschehen kann oder muss, das muss im Wesentlichen aus Steuerquellen geschehen.

    Gerner: 150 Milliarden Euro soll dieses ostdeutsche Programm kosten. Das Unwort des job flow ist heute in allen Zeitungen, eine deutsche Übersetzung liest man so gut wie nicht. Die meisten Ökonomen sehen Erklärungsbedarf, können Sie uns erklären wie das funktionieren soll - im Kurztitel liest man immer wieder, der Arbeitslose bringt den Job mit. Das klingt toll, wie soll es funktionieren?

    Gerster: Ich bin nicht der Obergutachter für Vorschläge der Reformkommission und ich bin sicher, dass sich die Reformkommission morgen und übermorgen - ich werde auch dabei sein - sehr sorgfältig mit diesen zusätzlichen Vorschlägen befassen wird. Ich bin nicht einmal sicher, ob diese Vorschläge Kern des Gesamtberichtes sein werden oder unter Umständen eine Ergänzung, wie man ganz besonders auch auf die Probleme Ostdeutschlands eingehen will. Das muss schon Peter Hartz erklären. Ich habe es mir von ihm erklären lassen aber ich gebe zu, ich habe es nicht in allen Teilen verstanden. Aber das muss nicht gegen das Konzept klingen sondern das hängt wohl auch damit zusammen, dass es nach meiner Kenntnis in einer Skizze vorhanden ist aber noch nicht als Programm, das wirklich auch festlegt, wer was zu tun hat.

    Gerner: Sie sagten eben, Sie haben Zweifel ob das als Kern so im Endbericht der Hartz-Kommission stehen wird. Kann man daraus entnehmen, dass Gerhard Schröder diese Pläne nicht zu hundert Prozent übernehmen wird?

    Gerster: Gerhard Schröder ist nicht Teil der Hartz-Kommission und das Arbeitsministerium ist ebenfalls zwar dabei aber wird nicht mitentscheiden, was in dem Bericht drinstehen wird...

    Gerner: Ich frage das, weil es immer wieder Kommissionen gegeben hat, siehe Bundeswehr-Kommission gegeben hat, die für den Papierkorb gearbeitet haben.

    Gerster: Ja. Das glaube ich nicht. Dazu ist die Kommission bisher schon zu bemerkenswert in Erscheinung getreten und auch zu interessant zusammengesetzt. Da sitzen Leute drin, die lassen sich nicht einfach für eine Marketingtour missbrauchen. Ich habe immer noch eine durchaus deutliche Erwartung an ein interessantes Ergebnis, das wir auch als Bundesanstalt für Arbeit in wesentlichen Teilen umsetzen können. Aber ich denke, es ist noch ein Stück offen, auf was sich eben die Mehrheit von 15 Mitgliedern oder gar alle einigen können und was dann schließlich der Politik als Empfehlung zusammen übergeben wird.

    Gerner: Herr Gerster, besonders umstritten - und das betrifft wieder die Arbeitsämter - sind die Leistungskürzungen für Arbeitslose. Wie wollen Sie dieses Problem lösen, die Gewerkschaften haben die Schmerzgrenze hochgelegt.

    Gerster: Ich bin natürlich nicht der Verkünder aller negativen Botschaften, meine allerdings, dass es in einem Gesamtkonzept, in dem es auch viele Förderelemente gibt, zum Beispiel die Chance der Zeitarbeit zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit, die Chance der schnelleren passgenauen Vermittlung, dass es in einem solchen Gesamtkonzept auch klare Regelungen geben muss, wie lange Lohnersatzleistungen stabil erwartet werden können. Und das ist in den letzten 20 Jahren bis auf fast drei Jahre für Ältere hochgezogen worden, da hätte ich mir eine Veränderung gewünscht und wünsche sie mir immer noch. Welche Vorschläge in der Kommission schließlich mehrheitsfähig sein werden ist noch ein Stück offen, da werden die nächsten Tage ganz entscheiden sein.

    Gerner: Unter dem Strich kann man sagen nach der Wahl werden sich die Arbeitslosen umsehen müssen?

    Gerster: Nach der Wahl wird Wesentliches in Gesetze gegossen werden. Wir, der Vorstand in Nürnberg, werden allerdings schon vor der Wahl sagen, was wir recht bald anpacken, also in den nächsten Wochen und Monaten und da wird mehr passieren als nur ein interessantes Wortwechseln, da wird es an die Sache gehen.

    Gerner: Herr Gerster, eine abschließende Frage, ich habe eben vom Stichwort Vollbeschäftigung als Vision gesprochen. Wenn wir ehrlich sind: wie groß ist die Sockelarbeitslosigkeit, die wir vermutlich so schnell nicht wegkriegen?

    Gerster: Ich rechne damit, dass es auf absehbare Zeit, also noch in meinem Berufsleben, das ist dann etwas mehr als ein Jahrzehnt, eine große Chance gibt durch verschiedene Maßnahmen und durch die demokratische und wirtschaftliche Entwicklung sehr nah an die Vollbeschäftigung ranzukommen. Das sind dann nach allgemeiner Definition drei bis fünf Prozent Arbeitslosigkeit. Nun kann man darüber streiten ob dieser Sockel auf Dauer bleiben muss aber deutlich darunter würde ich mir Vollbeschäftigung heute nicht mehr vorstellen.

    Gerner: Florian Gerster von der Bundesanstalt für Arbeit war das, ich danke Ihnen für das Gespräch und hoffen wir, dass die Zahlen besser werden.

    Link: Interview als RealAudio