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Über Wert und Würde

Die Diskussion über Wert und Würde menschlichen Lebens geht inzwischen weit über die Wissenschaft hinaus. Verändern nicht auch die Rationalisierungszwänge einer globalen Wirtschaft unser Welt- und Menschenbild? Fragen wie diesen widmet sich ein neu erschienener Sammelband. Marc-Christoph Wagner stellt das Buch vor.

    "Es braucht keine andere Lebens- und Weltkenntnis mehr als die, dass alles, was ist, Leben ist, und dass wir allem, was ist, als Leben, als einem höchsten unersetzlichen Wert, Ehrfurcht
    entgegenbringen müssen."

    Die Zeiten, so scheint es, haben sich verändert. Als der Philosoph und Arzt Albert Schweitzer 1951 vom Leben als einem höchsten, unersetzlichen Wert sprach, hatte die Welt nur wenige Jahre zuvor das Gegenteil erlebt. Im Nationalsozialismus, aber auch im Stalinismus, zählte ein Menschenleben wenig.

    Nur ein halbes Jahrhundert später ist es mit diesem laut Schweitzer höchsten Wert erneut so eine Sache. Geht es auch weniger um die physische Bedrohung des Einzelnen, so ist doch eine allgemeine Ökonomisierung des menschlichen Lebens zu beobachten. In der globalisierten Wirtschaft sind die wenigsten unersetzlich, allein werden sie nicht mehr für Volk und Vaterland geopfert, sondern im Namen von Wettbewerbsfähigkeit und Gewinnmaximierung. Bezeichnenderweise wurde der Begriff Humankapital zum Unwort des Jahres 2004 gekürt.

    "Menschen werden degradiert. Das ist ein zynischer Sprachgebrauch. Und 'Humankapital' bietet sozusagen die fast theoretische Basis dafür."

    Der Mensch gerät zum Kapital – das aber nicht allein im wirtschaftlichen, sondern in immer mehr Bereichen des Lebens, so die Philosophin Annemarie Pieper. In ihrem Beitrag für den Band "Der Wert des Menschen. An den Grenzen des Humanen" zeichnet sie ein Bild der Gegenwart, das stark an den von Herbert Marcuse in den 60er Jahren geprägten Begriff des eindimensionalen Menschen erinnert:

    "Die ökonomischen Werte werden als die eigentlichen, global verbindlichen Werte deklariert. Die Folge ist ein extremer Materialismus, der unsere heutigen Wertvorstellungen dominiert. Wir kennen trotz der Vielfalt an Werten in den verschiedenen Dimensionen unserer Lebenswelt nur noch einen Grundwert: den des Profits. Der Wertbegriff hat sein moralisches und sein ethisches Profil verloren und wird primär auf quantifizierbare Gegenstände bezogen."

    Tatsächlich taucht die Frage nach dem Wert des Menschen in immer mehr Lebensbereichen auf. Wann fängt Leben überhaupt an?, müssen sich etwa all diejenigen fragen, die sich von der regenerativen Medizin und ihrer Forschung an embryonalen Stammzellen die baldige Heilung bislang unheilbarer Krankheiten erhoffen. Gibt es ein lebensunwertes Leben, wie der Philosoph Peter Singer behauptet und sich daher für eine aktive Tötung von schwerstbehinderten Neugeborenen einsetzt? Und kann es sich eine Gesellschaft wirklich leisten, jedwedes Leben zu erhalten? Wäre manches Organ eines im Koma liegenden Patienten nicht besser im Körper eines anderen aufgehoben?

    Der Einzelne wie auch die Gesellschaft als ganze kommen nicht umhin, diese und andere Fragen zu stellen und allgemein verpflichtende Antworten zu finden. Dabei gilt es, so der Herausgeber des Bandes, Konrad Paul Liessmann, Professor für Philosophie an der Universität Wien, philosophisches, ethisches und gesellschaftspolitisches Neuland zu betreten. Viele Fragen nämlich hätten sich überhaupt erst durch den technischen Fortschritt der vergangenen Jahre ergeben:

    "Was mich an dem Thema natürlich interessiert, das waren sicher auch die Entwicklungen der letzten Jahre, die ja ganz deutlich gezeigt haben, dass wir zunehmend Schwierigkeiten bekommen zu definieren, was den Menschen eigentlich ausmacht, worin sein Wert besteht, wie es mit der Würde des Menschen bestellt ist. Das waren Dinge, die wir so im aufklärerischen Denken und vor allem unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg für selbstverständlich erachtet haben, dass man zum Beispiel die Frage 'Gibt es lebensunwertes Leben?' nicht diskutiert. Seit geraumer Zeit wird wieder darüber diskutiert. Gerade im Zusammenhang mit Euthanasie, in dem Zusammenhang taucht plötzlich wieder diese Frage auf: Ist jedes menschliche Leben gleich wert wie ein anderes, oder ist ein menschliches Leben, das gesund ist, das kräftig ist, das arbeitsfähig ist, nicht doch um einiges wertvoller als schwaches, krankes, altes oder nicht entwicklungsfähiges Leben?"

    Wert und Würde des Menschen - diese Differenzierung und Gratwanderung zieht sich wie ein roter Faden durch den Band. Die einzelnen Autoren nähern sich dem Thema von unterschiedlicher Seite. So steht der Aufsatz des Soziologen Rainer Münz "Von der Zumutung, in einer alternden Gesellschaft alt zu werden" neben den Ausführungen des Theologen Eberhard Schockenhoff über die Idee der Menschenwürde in der Bioethik sowie den Erkundungen der Germanistin Konstanze Fliedl, die Wolf, Wurm und Wanze als literarische Metaphern für den Menschen analysiert. Die einzelnen Autoren werfen Schlaglichter und führen den Leser in ihre jeweiligen Themenbereiche ein, ohne dabei endgültige Antworten zu transportieren.

    Franz Müntefering: "Unsere Kritik gilt der international wachsenden Macht des Kapitals und der totalen Ökonomisierung eines kurzatmigen Profithandelns, denn dadurch geraten einzelne Menschen und die Zukunftsfähigkeiten ganzer Unternehmen und Regionen aus dem Blick. Und die Handlungsfähigkeit der Staaten wird rücksichtslos reduziert, im Ergebnis wird damit die Reputation des Staates, auch der Demokratie, bei den Bürgerinnen und Bürgern dramatisch belastet, weil er, der Staat, nicht mehr in der Lage ist, die von ihm erwartete Interessenwahrung hinreichend zu leisten."

    Der Band ist durchaus zu empfehlen, vor allem dann, wenn man manch theoretisch-abstrakte Passage nicht scheut. Herausragend ist das Buch besonders da, wo die politisch-gesellschaftlichen Folgen der allgemeinen Ökonomisierung des Daseins erörtert werden. Insbesondere der bereits erwähnte Beitrag von Annemarie Pieper "Der evaluierte Mensch. Von der Menschenwürde zum Humankapital" liest sich wie eine Auseinandersetzung mit der im vergangenen Jahr von Franz Müntefering formulierten Kapitalismuskritik:

    "Die den Wünschen des homo consumens angepasste ökonomische Lebensform bedarf einer Neubesinnung auf die kollektiven Grundlagen der Menschheit, einschließlich der kommenden Generationen, deren Glück von den heute Lebenden verspielt wird. Der zum Selbstzweck entartete utilitaristische Nutzkalkül muss auf das Fundament einer Wert- und Güterlehre gestellt werden, die neben dem in einem materiellen Sinn guten Leben der Individuen das Wohl aller im Auge hat und zur politischen Verantwortung verpflichtet"

    Laut Pieper hat die moderne Gesellschaft ihr Bewusstsein dafür verloren, dass neben den ökonomischen Werten auch ethisch-demokratische sowie moralische Grundwerte existieren, ja dass letztere die Voraussetzung für erste sind. Heute, so Pieper, würden die ethisch-demokratischen Grundwerte zunehmend als idealistischer Luxus abgetan.

    "In einer von Raubtieren beherrschten Gemeinschaft fehlt der gemeinsame Boden, auf dem über die Respektierung von Werten sinnvoll geredet werden und eine Handlungsgemeinschaft von gleichberechtigten und einander als gleichwertig anerkennenden Individuen gegründet werden kann."

    Konrad Liessmann (Hg.): Der Wert des Menschen. An den Grenzen des Humanen.
    Paul Zsolnay Verlag, Wien, 2006
    304 Seiten
    19,90 Euro