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Übergroße Werke
Kunst der Gigantomanie

Monumental, gigantisch, überdimensional: Die beiden französischen Autorinnen Éléa Baucheron und Diane Routex präsentierten in ihrem Kunstband "XXL-Kunst, die den Rahmen sprengt". Vorgestellt werden Werke von Ai Weiwei bis James Turell, die den Betrachter schon angesichts ihrer Größe überwältigen.

Von Martina Wehlte | 15.04.2015
    Eine riesige Skulptur in Form eine gelben Ente schwimmt im Hafen von Sydney.
    XXL-Kunst: Florentijn Hofmans Rubber Duck ist 15 Meter hoch und 18 Meter breit. (picture-alliance/ dpa/ aap/Damian Shaw)
    Größer, höher, schneller – wir sind es gewohnt, dass auf den jüngsten Rekord bald schon ein "da-geht-noch-was" folgt und so ist für diese Zeit eine Kunst der Gigantomanie geradezu charakteristisch. Das französische Autorinnen-Duo Éléa Baucheron und Diane Routex hat das Land der XXL-Kunst von heute vermessen und präsentiert in seinem neuen Prestel-Kunstband Skurriles und Frappierendes, atemberaubend Schönes und Verstörendes, Tiefsinniges und Effektheischendes. Dabei wird rasch klar, dass diese Monumentalkunst einen anderen Anspruch hat als in vergangenen Jahrhunderten.
    "In den meisten Fällen ist es weder die Religion noch die Verehrung eines mächtigen Menschen, sondern der Wunsch, dem Betrachter eine neuartige ästhetische Erfahrung zu bescheren. Monumentalität ist nicht nur Selbstzweck. Sie verstärkt die optische Wirkung eines Werkes, stellt eine technische Herausforderung dar und transportiert eine Botschaft. In einer visuell saturierten Welt hebt sich XXL-Kunst ganz einfach ab."
    Kunstwerk und Umgebung treten in einen ungewohnten Dialog
    Und dass sie zumeist nicht für die Ewigkeit gemacht, sondern recht kurzlebig ist, entspricht ja auch dem Zeitgeist. Für den Betrachter stellt sich aber zuerst sicher die Frage der Verhältnis- oder Unverhältnismäßigkeit von Objekt und Raum, denn das Kunstwerk und seine Umgebung treten in einen ungewohnten Dialog.
    Die überdimensionierten begehbaren Stahlinstallationen von Richard Serra oder Anish Kapoors Werk Leviathan sind gute Beispiele dafür, wie verändert der Besucher den Raum wahrnimmt, in dem er geschrumpft erscheint, sobald er sich in das Werk hineinbegibt. Den Effekt des Leviathan, eines großen violetten PVC-Schlauchs, der 2011 im Rahmen der alljährlichen "Monumenta" im Pariser Grand Palais ausgestellt war, beschreiben die Autorinnen so:
    "Betrat man den Schlauch, hatte man den Eindruck im Inneren des menschlichen Körpers zu sein, denn durch die Schlauchhülle schimmerte rötlich das durch die Glaskuppel einfallende Licht. Wieder einmal war es Kapoor gelungen, eine Interaktion zwischen den Besuchern und seinem Werk herzustellen."
    Das Erlebnis des im Bildband inwendig fotografierten Leviathan hob die physische Begrenzung des Körpers auf, indem es das innere Rot nach außen vor das Auge treten ließ und durch diese Introspektion unsere Selbsterfahrung veränderte. Leider greift der Begleittext, der wie jedem der ganzseitig abgebildeten Kunstwerke beigegeben ist, nicht den im Titel enthaltenen Bezug auf das biblische Ungeheuer Leviathan als Inbegriff des Bösen auf. Damit wird bei der Interpretation der vom Künstler offensichtlich intendierte Aspekt des Monströsen, des zerstörerischen Allmachtstrebens in der menschlichen Natur ignoriert.
    Der Mensch selbst wird selten von den XXL-Künstlern dargestellt, wie von Ron Mueck in seinen übergroßen, merkwürdig ängstlich, hilflos und oft hässlich wirkenden hyperrealistischen Figuren. Und doch ist der Mensch omnipräsent: In seiner sichtbaren Hinterlassenschaft, darin, wie er sich die Welt gestaltend oder verunstaltend aneignet; oder symbolisch wie in der Installation Head On des Chinesen Cai Guo-Qiang, der im Auftrag des Guggenheim-Museums Berlin eine Installation aus einem großen Rudel von Wölfen schuf, die in hohem Bogen gegen eine Glaswand springen, sich nach dem Abprall wieder aufrappeln und es von neuem versuchen. Hier wird auf die unsichtbare Mauer in den Köpfen der West- und Ostdeutschen angespielt. Im weiteren Sinne tritt vor Augen, wie der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, mit gefletschten Zähnen vorwärts prescht und in der ewigen Wiederkehr – scheitert.
    Cloud Gate von Anish Kpoors in Chicago
    Noch einmal sei ein Werk Anish Kapoors zitiert, sein Cloud Gate in Chicago. Die zwanzig Meter breite, hochglanzpolierte Edelstahlplastik, in der sich Gebäude und Passanten verzerrt spiegeln, ist ein faszinierendes Beispiel für die Verfremdung der Wirklichkeit, die in je eigener Form allen Werken des vorgestellten Sammelbandes eignet. Unsere Sehgewohnheiten werden irritiert, Reales und Surreales scheinen nicht mehr eindeutig trennbar. Dass die Architektur, die Stadtlandschaft als unser aller tägliches Umfeld dabei eine besondere Rolle spielt, liegt auf der Hand. Besonders reizvoll ist für Künstler der Zugriff auf symbolträchtige Herrschaftsarchitektur, sei es für Christo und Jean-Claude die Verhüllung des Berliner Reichstages 1995 oder für Tadashi Kawamata ein Strom von Obstkisten, der sich zeitweilig vom Dach des Versailler Schlosses ergoss. Für Ernesto Neto waren hingegen seine weißen, von der Decke herabgespannten Polyamidgewebe im Pariser Panthéon ein Arbeiten analog der vorgefundenen klassizistischen Architektur und ein Kommentar auf deren ideellen Anspruch.
    Als einen Animateur des Anders-Sehens stellen Éléa Baucheron und Diane Routex auch den französischen Vater der Art Brut Jean Dubuffet vor, der mit seiner Closerie Falbala unweit von Paris auf 1.600 Quadratmeter eine Großskulptur aus weiß gestrichenem Beton und Kunstharz errichtete, die von schwarzen Lineamenten strukturiert wird, wie sie auch für seine Zeichnungen und Gemälde charakteristisch sind. Den anti-intellektuellen Impetus des Künstlers machen die Autorinnen an dem Meditations- und Reflexionsraum von Falbala ersichtlich. Er ist von Dubuffet wortschöpferisch Cabinet logologique genannt, bietet keinen Durchblick nach draußen und veranschaulicht zusammen mit der Wortdoppelung von logos in logologique das weltfremde Schmoren mancher Denker im eigenen Saft. Eine psychische Innenwelt konkretisiert die Japanerin Chiharu Shiota in ihren dichten Gespinsten aus unterschiedlich dicken schwarzen Wollfäden, hinter deren Vernetzungen ein symbolträchtiger Gegenstand zu erkennen ist; in ihrer raumgreifenden Installation Insilence ein aufgeklappter Flügel und ein Stuhl. 140 Kilometer Fäden wurden um das von Feuer verkohlte Instrument gesponnen, um den inneren Nachwirkungen eines traumatischen Ereignisses Ausdruck zu verleihen.
    "Der Ausstellungsraum ist ihr Hirn, das stumme Piano ihre im Körper gefangene Stimme. Die schwarzen Fäden symbolisieren ihre Angst."
    Nicht zuletzt ist auch die Land Art eine Facette der XXL-Kunst, zum Beispiel die Landschaftszeichen im Tschad oder auf Neuseeland, die temporären Signaturen Jim Denevans am Baikalsee oder am kalifornischen Strand. Allein unter geografischem Aspekt würde kein Kunstreisender je ein solches Spektrum zeitgenössischer Monumentalkunst weltweit vor Augen bekommen, wie es die beiden Autorinnen in ihrer erprobten Kombination einer phänomenologischen Auswahl und treffenden, schlaglichtartigen Charakterisierung von originellen Künstlern und ihren Werken präsentieren.
    Éléa Baucheron, Diane Routex: XXL. Kunst, die den Rahmen sprengt.
    Prestel Verlag, 2014, 176 Seiten., 80 farbige Abbildungen. Preis: 29,95 €.