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Überraschungen und Ursachen des Wahlausgangs

    Remme: Ein prozentuales Patt zwischen den beiden Parteien (38,5 Prozent), wegen der Überhangmandate ist die SPD vorne, die Grünen können sich über einen großen Erfolg freuen und wir haben jemandem am Telefon, der sich bei den Grünen auskennt, besonders bei den Grünen, den Parteienforscher Joachim Raschke. Herr Raschke, ich grüße Sie.

    Raschke: Guten Morgen.

    Remme: Was war für Sie die Überraschung gestern abend?

    Raschke: Na, wer den Kopf vorne hatte am Schluss. Kopf-an-Kopf-Rennen, das wussten wir alle. Aber das war offen wie in den 90er-Jahren, sage ich mal. Wir haben ein System von zwei gleich starken Blöcken, deswegen war es auch eine Normalisierungswahl. Der Ausreißer war 98, wir müssen mitrechnen, dass die Parteien nur um wenige tausend Stimmen differieren und das ist die Lage in der Bundesrepublik.

    Remme: Wir haben das gerade gemeldet, es sind genau 8.800 Stimmen, die die SPD von der Union trennt. Sind diese knappen Mehrheitsverhältnisse - es sind doch immerhin elf Mandate geworden - ein Nachteil für den Parlamentarismus?

    Raschke: Nein, sie machen nur das Regieren schwieriger. Sie haben im Grunde zwei Mehrheiten: eine kulturelle, die für Toleranz, Offenheit und soziale Gerechtigkeit ganz wichtig ist, und das ist eine rot-grüne Mehrheit, sage ich mal vereinfacht. Dann haben Sie haben eine ökonomische Mehrheit, die schwarz-gelbe, die alles der Hoffnung auf wirtschaftliche Verbesserung unterordnet und intelligentes Regieren heißt, diese zwei Mehrheiten zusammenzufügen. Sie haben ja im Grunde drei Parteien, die an der Regierung sein werden: die SPD und die Grünen in der Bundesregierung und die Unionsparteien als Mehrheitsparteien im Bundesrat. Und die drei Parteien zusammen werden das Regieren bestimmen. Ausgeschlossen ist im Moment nur die FDP, die mit ihrem harten Neoliberalismus eine Minderheitspartei in Deutschland ist.

    Remme: Das muss aber keinen Stillstand bedeuten, oder?

    Raschke: Das muss keinen Stillstand bedeuten. Es gibt ja gar keine andere Wahl, als dass man die überfälligen Reformen bei Beschäftigungs- und Gesundheitspolitik, um mal die beiden wichtigsten Felder zu nennen, neben der Reparatur des Verhältnisses zu den USA, herauszugreifen. Mehrheit ist Mehrheit, aber sie besteht nicht nur aus rot-grünen Parteien, sondern die Union ist im Grunde in der Regierung mit drin.

    Remme: Herr Raschke, werfen wir einen Blick auf die Grünen; sie haben eine harte Zeit hinter sich, was die Landtagswahlen angeht. Eine Niederlage reihte sich an die nächste, ein Minusergebnis. Jetzt stehen sie da als doch überraschender Erfolgskandidat dieser zwei Koalitionäre. Wie erklären Sie sich das?

    Raschke: Die Situation war ideal für die Grünen; sie hätten auch ohne Joschka Fischer gut abgeschnitten. Flut, das war das Ökologiethema, Klimakatastrophe, Irak das Friedensthema. Das sind ihre Themen. Dazu aus der Parteiperspektive gleich drei Feindbilder für das Milieu: Stoiber, Westerwelle, Möllemann. Und schließlich auch die Schwäche der Konkurrenzpartei PDS. Wobei die Grünen ihren Sieg nicht überschätzen sollten. Man weiß, dass etwa ein Drittel ihrer Wähler mit der SPD enger verbunden sind und sich mit ihr identifizieren, die also die Grünen mit drin haben wollten, die Rot-Grün haben wollten, aber keine Kernwähler der Grünen sind. Sie sind ein stabiles Element unseres Parteiensystems, wenn es ernst wird, aber die Bäume wachsen nicht in den Himmel und Joschka Fischer allein kann es nicht richten. Die Themen, die Situation muss dazukommen.

    Remme: Rechnen Sie damit, dass sich das Gesicht der Koalition durch den stärkeren Erfolg der Grünen verändert wird?

    Raschke: Ja, das ist normal, dass eine Partei, die dazugewinnt, während die große ein bisschen abnimmt, dass dann - das ist das Übliche - ein Ministerium dazukommt. Damit rechne ich. Politisch sind die Weichen gestellt, man hat sich ja beispielsweise schon vorher festgelegt, die Pläne der Hartz-Kommission umzusetzen,. Die werden dann erst im Bundesrat verändert, aber diese Koalition muss Dampf machen, gegen einen ersten Aufschrei aus der Wirtschaft, die sich dann aber in einem vermutlich neuen Bündnis für Arbeit miteinklinken wird. Es gibt keine andere Wahl als eine intelligente Konsensdemokratie in Deutschland zu betreiben.

    Remme: Herr Raschke, blicken wir zum Schluss auf die PDS, Sie sind Parteienforscher. Ist diese Niederlage der PDS möglich als ein Betriebsunfall zu werten oder ist das eine Sache, die an die Existenz dieser Partei geht?

    Raschke: Ich glaube immer noch, dass es strukturelle Voraussetzungen für die PDS in Ostdeutschland gibt. Für sie war im Unterschied zu den Grünen die Situation besonders ungünstig: der unglaubwürdige Abgang von Gysi, dann haben ihr die Grünen und die SPD das Friedensthema weggenommen. Aber das ist ein dauerndes Problem: sie wird als Protestpartei entzaubert. Die Regierungsbeteiligung in Berlin und Schwerin entzaubert sie als Anwalt der kleinen Leute und die Union hilft ihr nicht mehr, dass sie aufgebaut werden kann durch eine 'Rote-Socken-Kampagne'. Also es ist völlig klar, dass die Verhältnisse für die PDS schwierig werden, aber es ist noch nicht das Aus der Partei.

    Remme: Jetzt dachte ich, ich hätte meine letzte Frage gestellt, aber doch noch ein Wort zur Union: glauben Sie, die Geschlossenheit, die so erfolgreich war für diesen Wahlkampf, wird anhalten?

    Raschke: Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube, dass die Union vor Richtungs- und vor allem vor Führungskämpfen stehen wird. Morgen schon muss sie ja entscheiden, wer Fraktionsvorsitzender wird, Merz oder Merkel. Das sind schon Vorentscheidungen, jedenfalls für Frau Merkel, in Richtung Kandidatur für die nächste Kanzlerschaft in vier Jahren, Roland Koch wird mit sein Bündnis aufbauen. Das sind alles Fragen nach der Episode Stoiber, die jetzt hinter der Union liegt, es wird intensive Führungskämpfe in der Union geben.

    Remme: Vielen Dank. Der Parteienforscher Joachim Raschke. Herr Raschke, haben Sie vielen Dank.

    Link: Interview als RealAudio