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Ukraine-Berichterstattung
Rebellion der Leser

Für ihre Berichterstattung über die Krise in der Ukraine müssen deutsche Medien viel Kritik einstecken. Zu einseitig, zu russlandkritisch heißt es tausendfach in Leserkommentaren vieler Nachrichtenportale. Auch Medienexperten und Russlandkenner beklagen massive Fehler. Die Redaktionen geraten zunehmend unter Rechtfertigungsdruck.

Von David Goeßmann | 10.05.2014
    Eine prorussische Demonstrantin in Charkiw hält ein Schild mit der Aufschrift "Russia is our friend - USA go home!"
    Eine prorussische Demonstrantin in Charkiw. Die Berichterstattung deutscher Medien über die Ukraine-Krise sorgt bei vielen Lesern für Unmut. (picture alliance / dpa/ Anastasia Vlasova)
    Ende letzter Woche: In Odessa findet ein Massaker an über 40 russischstämmigen Demonstranten statt. Die deutschen Medien liefern fast keine Hintergründe zum "brennenden Gewerkschaftshaus" und blenden die Rolle ukrainischer neonazistischer Milizen und Sicherheitskräfte meist aus. Ein Kommentar auf tagesschau.de spricht von einer "Berichterstattung der Schande", ein weiterer Leser kritisiert: "Ich erwarte von unseren Öffentlich-Rechtlichen eine objektive Berichterstattung und mehr Details über diese unmenschliche Tat, die vom Rechten Sektor begangen wurde". Der Redaktionsleiter von tagesschau.de Andreas Hummelmeier weist den Vorwurf unausgewogener Berichterstattung jedoch zurück.
    "Die ARD ist mit Korrespondenten vor Ort, denen wir vertrauen. Und insgesamt geben wir ein realistisches Bild dieser sehr diffusen Lage ab, immer wissend, dass jede Partei ein Interesse hat, ihre Seite, ihre Sichtweise besonders bevorzugt darzustellen."
    Noch stärker als tagesschau.de ist die "taz" wegen ihrer Ukraine-Berichterstattung in die Leser-Kritik geraten. Der Vorwurf vieler Kommentare: Die Zeitung dämonisiere die russische Politik, während der Westen zusammen mit der Kiewer Übergangsregierung als stabilisierende Kraft dargestellt werde. "taz"-Chefredakteurin Ines Pohl verteidigt die Berichterstattung der Zeitung:
    "Wir haben uns natürlich bemüht, ausgewogen zu berichten, so wie es ging auch verschiedene Stimmen, auch natürlich Stimmen, in denen die Anliegen der russischen oder russischstämmigen Bevölkerung in der Ukraine auch natürlich ernst genommen werden. Die waren auch im Blatt, aber die finden dann auch kaum Beachtung in der Fokussierung auf die Unterstellung, dass wir sehr anti-russisch berichtet hätten."
    Diskussion um das Wort "Krim-Annexion"
    Viele Leser auf den "taz"-Kommentarforen sehen tatsächlich eine Schieflage. So interviewte Ines Pohl ein paar Tage nach dem Odessa-Massaker eine ukrainische Bloggerin. Titel: "Ich habe Angst. Wir haben Angst". Leser beklagten darauf hin: Was ist mit der Angst der russischstämmigen Demonstranten vor den rechtsradikalen Schlägern des Rechten Sektors? Warum dürfe die Kiewer Bloggerin das Verbot russischer Medien in der Ukraine loben und vor einem Genozid wie in Ruanda durch russische Expansionsgelüste warnen, ohne das kritische Nachfragen von der "taz" kämen?
    Doch nicht nur von Lesern kommen Einwände. Auch Russland-Kenner wie die ehemalige ARD-Moskau-Korrespondentin Gabriele Krone-Schmalz, Blogger und Friedensaktivisten verweisen auf Missstände in der Berichterstattung. Die Journalistin und Schriftstellerin Daniela Dahn hat eine öffentliche Erklärung verfasst: "Aus Sorge um den Frieden", unterzeichnet vom Bundes-Friedensratschlag. Sie mahnt die Medien darin, rhetorisch abzurüsten, auf Distanz zu offiziellen Sprachregelungen wie "OSZE-Beobachter" oder "Krim-Annexion" zu gehen und die russische Seite gleichberechtigt anzuhören.
    "Medien müssen die Voraussetzung schaffen, sich ein eigenes Bild machen zu können. Sie haben aber eigentlich nur immer das regierungsoffizielle Bild oder deren Anhänger verkündet, weitgehend. Es gab vielleicht auch Ausnahmen. Korrespondenten vor Ort waren da schon aufschlussreich. Aber von der Tendenz her sind wir sehr einseitig informiert worden und das hat viele Bürger empört."
    Eine grundlegende Kursänderung ist in der deutschen Berichterstattung bisher nicht zu erkennen. Putins "Griff nach der Ukraine" ist weiter Subtext vieler Schlagzeilen und Artikel. Kritische Stimmen zum Vorgehen der ukrainischen Übergangsregierung in der Ostukraine, zur eskalierenden Rolle des Westens und zu den ökonomischen und militärischen Interessen von USA und EU bleiben Mangelware. Die "Rebellion unter den Lesern", wie es die "Neue Zürcher Zeitung" nennt, wird in den Kommentarforen wohl weiter anhalten.