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Ukraine
Bürgerrechte eingeschränkt

Die Caritas versorgt die Demonstranten in Kiew, und ihr Leiter Andrij Waskowycz vertrat im Deutschlandfunk eine klare Haltung: Er stehe auf Seiten der Bürgerrechte, die zuletzt "sehr stark" eingeschränkt worden seien.

Andrij Waskowycz im Gespräch mit Thielko Grieß |
    Demonstranten in Kiew wärmen sich an einem Feuer in der Nacht
    Demonstranten in Kiew wärmen sich an einem Feuer in der Nacht (picture-alliance / dpa / Zurab Kurtsikidze)
    Thielko Grieß: Die Nacht in Kiew und in der Ukraine insgesamt ist nicht ganz so unruhig verlaufen wie noch in anderen Nächten, aber die Situation ist weiter gespannt. Und dort in Kiew begrüße ich jetzt am Telefon Andrij Waskowycz, Chef der katholischen Caritas in der Ukraine. Guten Morgen nach Kiew!
    Andrij Waskowycz: Guten Morgen!
    Grieß: Wie erleben Sie Ihre Stadt zurzeit?
    Waskowycz: Ja, in der Stadt ist natürlich eine große Spannung, die nacht war unruhig, es gab Auseinandersetzungen zwischen den Demonstranten und den Sondereinheiten der Miliz. Vonseiten der Miliz wurden Blendgranaten auf die Seite der Demonstranten geschossen, vonseiten der Demonstranten wurden Steine geworfen und scheinbar auch Molotowcocktails. Die Auseinandersetzungen begannen gegen 22 Uhr in der Nacht, aber im Augenblick ist die Lage ruhig, es gibt keine Auseinandersetzungen und man wartet ab, was in den nächsten Stunden geschehen wird.
    Grieß: Sie sind Chef der Caritas, das habe ich gerade gesagt. Das klingt erst einmal unparteiisch, aber Sie haben sich entschieden für das Lager der Opposition. Warum?
    Gesetzt schränkt Bürgerrechte ein
    Waskowycz: Ich würde nicht sagen, für das Lager der Opposition. Es geht hier darum, dass in der Ukraine die Bürgerrechte eingeschränkt werden. Die Gesetze, die am 16. Januar verabschiedet wurden, schränken die Bürgerrechte in der Ukraine sehr, sehr stark ein. Das heißt, es gibt Verbote und Einschränkungen des Demonstrationsrechtes, des Rechtes auf Meinungsäußerung, es gab den Versuch, die Kirchen einzuschüchtern, die an den Demonstrationen teilnehmen oder die Menschen geistig an den Demonstrationen begleiten. Darum, es geht hier nicht um Opposition und Regierung, es geht darum, dass die Menschen heute einstehen für ihre bürgerlichen Rechte, dafür, dass die Ukraine einen demokratischen Weg geht und nicht einen Weg des Totalitarismus, des Autoritarismus.
    Grieß: Da frage ich gleich noch mal nach, aber vorher noch mal die Frage: Was tun Sie denn konkret, um der Opposition zu helfen?
    Waskowycz: Unsere Leute sind teilweise beteiligt daran, die Versorgung der Demonstranten mit zu gewährleisten. Das heißt, in den Suppenküchen arbeiten auch Mitglieder unserer Organisation. Aber wir sind als Organisation nicht offiziell an den Demonstrationen beteiligt, wir verpflegen die Menschen, das ist unsere Aufgabe, das ist die Aufgabe der Caritas.
    Grieß: Aber Sie haben sich ja trotzdem eindeutig positioniert!
    Waskowycz: Wir haben uns eindeutig positioniert für die Freiheit, für die demokratischen Rechte in der Ukraine.
    Grieß: Jetzt hat der Präsident Viktor Janukowitsch ja gestern angekündigt, dass das umstrittene Gesetz, das die Versammlungsfreiheit, das Demonstrationsrecht kürzlich geändert und auch beschränkt hat, dass das neu verhandelt wird in der nächsten Woche. Ist das ein bedeutendes Zugeständnis?
    Waskowycz: Es ist kein bedeutendes Zugeständnis, denn es geht ja darum, nicht dieses Gesetz zu variieren, es geht darum, dieses Gesetz zurückzuziehen. Zum einen ist dieses Gesetz unter Umgehung der parlamentarischen Geschäftsordnung angenommen worden, es ist durch Handzeichen angenommen worden ohne eine Kommission, die Stimmen gezählt hat. Es ist angenommen worden in einer Situation, in der es nicht besprochen wurde, es ist nicht durch die Kommissionen des Parlaments durchgegangen. Von daher, die Annahme dieses Gesetzes war schon rechtswidrig, deswegen sollte dieses Gesetz ganz außer Kraft treten. Und man sollte, wenn Demonstrationsrechte eingeschränkt werden sollten, es sollte besprochen werden auf einem normalen parlamentarischen Weg.
    Grieß: Wir haben in den vergangenen Tagen auch immer wieder auch von Gewalttaten, von Ausschreitungen gehört, die auch wieder aus den Reihen der Opposition, der Demonstranten gekommen waren. Was kann die Opposition, was können Sie tun, um Gewalttäter im Zaum zu halten?
    "Kein Verständnis für Gewalt"
    Waskowycz: In erster Linie muss sich etwas auf politischer Ebene bewegen, das heißt, es muss zu Verhandlungen kommen, die aufrichtig sind und wo man versucht, eine Lösung zu finden und nicht eine Hinhaltetaktik, die heute vom Präsidenten ausgeht. Zur Ausschreitung kam es dadurch, dass die Menschen gesehen haben: Nach 60 Tagen friedlicher Demonstration hat sich nichts bewegt. Die Regierung und die machthaber in der Ukraine haben diese Demonstrationen, an denen teilweise Hunderttausende von Menschen teilgenommen haben, absolut ignoriert, sind auf keine Forderungen der Demonstranten eingegangen, haben die Rechtsverletzungen seitens der Sicherheitskräfte noch vom letzten Jahr, vom Dezember, als in der Nacht am 30. November die Studenten gewaltsam niedergeknüppelt wurden auf dem Maidan, haben niemanden zur Rechenschaft gezogen für diese Taten. Und daher haben sich die Menschen zu radikaleren Schritten entschlossen.
    Grieß: Sie haben also Verständnis für Steinewerfer und Molotowcocktailwerfer?
    Waskowycz: Nein, ich habe kein Verständnis für Gewalt. Aber ich habe Verständnis dafür, dass die Menschen auf eine Lösung hinarbeiten wollen, wenn nichts mehr geht. Wenn keine Reaktionen auf friedliche Demonstranten sind, kommt es eben zu Gewaltakten.
    Grieß: Für heute sind, soweit wir das hier richtig sehen von Deutschland aus, keine weiteren Gespräche angesetzt zwischen der Opposition und der Regierung. An wem liegt es, wer mauert?
    Waskowycz: Es wird wahrscheinlich von beiden Seiten gemauert, weil die Forderungen der Opposition sich erhöht haben. Vitali Klitschko hat gestern davon gesprochen, dass es heute nicht mehr um die Heranziehung der Verantwortlichen für die Handlungen der Miliz geht, es geht heute schon um einen Wechsel der Machthaber, es geht heute um den Rücktritt des Präsidenten. Das sind natürlich schwerwiegende Forderungen, das heißt, es ist sehr schwierig, hier eine Lösung zu finden. Gestern hat der Präsident eine Begegnung gehabt mit den Vertretern der Kirchen und religiösen Organisationen und das Oberhaupt der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche hat die Bereitschaft angekündigt, als Vermittler einzutreten zwischen Präsident und Opposition. Möglicherweise könnte über solche Vermittlungen etwas geschehen, auch der Oppositionsführer Jazenjuk hat davon gesprochen, dass man möglicherweise Vermittler aus der Europäischen Union heranziehen möchte, damit es zu einer Lösung kommt.
    Grieß: Halten Sie das auch für eine gute Idee, internationale Ermittler, europäische Vermittler nach Kiew zu schicken?
    Waskowycz: Also, ich glaube, man sollte die Konflikte hier vor Ort lösen. Aber wenn es keine Möglichkeiten gibt, hier zu einer Verständigung zu kommen innerhalb der Ukraine, könnte es gut sein, wenn Vermittler aus dem Ausland hinzugezogen werden.
    Grieß: Wer ist denn glaubwürdig, wer würde denn akzeptiert?
    Waskowycz: Gestern war der EU-Erweiterungskommissar Füle in der Ukraine. Also, es könnten Vermittler aus der Europäischen Union sein, ich glaube, es könnte wieder die Gruppe des ehemaligen polnischen Präsidenten Kwasniewski sich zusammensetzen und versuchen einen Vermittlungsversuch. Ich glaube, es gibt verschiedene Varianten.
    Bewegungen im ganzen Land
    Grieß: Wir haben heute vor einer guten Stunde mit unserem Korrespondenten auch in Kiew gesprochen, der hat uns Folgendes geschildert, was heute in Lwiw, in Lemberg, dem früheren Lemberg stattfinden soll. Dort will die Opposition so eine Art Gegenregierung bilden für diese Stadt, das ist ein weiterer Schritt sozusagen auf der Leiter der Revolution, ein weiterer Eskalationsschritt so auch. Hilft Ihnen das? Hilft das Ihrer Sache?
    Waskowycz: Es sind sehr, sehr starke anzeichen davon und Berichte davon, dass diese Bewegung sich ausgeweitet hat auf das ganze Land, vor allen Dingen auf die westukraine, auf die zentralen Gebiete der Ukraine, auf die Gebiete im Norden. Auch in einigen Städten der Ostukraine gibt es bereits größere Demonstrationen, die darauf hinweisen, dass diese Demonstrationen sich nicht auf die Hauptstadt beschränken. Es gibt die Idee, einen Volksrat zu bilden, der zeitweilig sozusagen die Macht im Lande übernehmen sollte. Ich glaube, diese Sachen, diese Wege müssen gut durchdacht werden und man müsste sehen, dass es nicht zu einer Eskalation kommt, sondern dass es zu einer Entschärfung der Situation kommt und dass man wirklich Verhandlungen führt, damit man eine friedliche Lösung finden kann. Nächste Woche sollen sitzungen des Parlaments stattfinden, bei denen die Lage im Rahmen des Parlaments besprochen wird. Hier geht es darum, ob es möglich sein wird, im Parlament eine neue Mehrheit zu finden, die eine friedliche Lösung befürwortet. Es gibt heute Anzeichen, dass…
    Grieß: Aber die Mehrheiten sind ja, wie sie sind!
    Waskowycz: Ja, aber es gibt Anzeichen, dass Abgeordnete der Regierungspartei, der Partei der Regionen bereit sind, ihre Position aufzugeben. Gestern hat ein Mitglied der Partei der Regionen erklärt, er trete aus der Fraktion der Partei der Regionen im ukrainischen Parlament aus. Ich kann mir vorstellen, dass es hier Bewegung gibt.
    Grieß: Beobachten wir gerade ein Land, die Ukraine, das sich womöglich spaltet?
    Waskowycz: Nein, ich sehe keine Spaltung. In der Ukraine gibt es keine Spaltung im Volk, in der Ukraine sind die Demonstrationen ausgerichtet auf die Machthaber in der Ukraine. Die Machthaber in der Ukraine werden vom Volk rezipiert als ein korruptes System und das Volk ist nicht gegen ... Es sind nicht zwei Teile im Volk, es ist keine bürgerkriegsähnliche Situation, denn in der Ostukraine sind die menschen nicht gegen die Menschen in der Westukraine. Sie haben keine ideologischen Gegensätze. Die Gegensätze mögen darin liegen, dass in der Ostukraine viele Menschen noch eine Untertanenmentalität haben und somit sich nicht wagen, die Situation in ihrem lande zu verändern. In der Westukraine und in der zentralen Ukraine haben die Menschen bereits eine Bürgermentalität.
    Grieß: Da sprechen Sie jetzt aber Ihren Mitbürgern im Osten der Ukraine sozusagen die Staatsbürgerlichkeit ein Stück weit auch ab, oder die Fähigkeit, das auszuüben!
    Waskowycz: Nein, es ist nicht ein Absprechen der Staatsbürgerlichkeit, aber die Menschen sind dort von 80 Jahren Sowjetunion geprägt worden und eingeschüchtert worden durch das alte System, sie stehen heute noch, mehr als 20 Jahre nach der Unabhängigkeit stehen sie noch immer unter dem Einfluss der postsowjetischen, sowjetischen und postsowjetischen Propaganda. Und das natürlich beeinflusst diese Menschen, diese Untertanenmentalität beizuhalten. Aber ich glaube, auch dort beginnt sich etwas zu bewegen, und die Menschen erkennen die Notwendigkeit, bürgerliche Positionen einzunehmen!
    Grieß: Andrij Waskowycz, Chef der ukrainischen Caritas, heute Morgen live bei uns im Deutschlandfunk! Danke, herr Waskowycz, für das Gespräch!
    Waskowycz: Danke Ihnen!
    Grieß: Einen guten Tag!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.