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Ukraine
"Den Maidan vervielfachen"

Die Proteste in der Ukraine breiteten sich derzeit über das ganze Land aus, sagte der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch im Deutschlandfunk. Dies sei auch die einzige Möglichkeit, etwas zu bewirken. Die Europäer sollten erkennen, dass die Ukrainer "für die europäischen Werte schon viel ihres Blutes vergossen" hätten.

Juri Andruchowytsch im Gespräch mit Peter Kapern | 24.01.2014
    Peter Kapern: Juri Andruchowytsch ist der wohl renommierteste Schriftsteller der Ukraine. Er gilt derzeit als eine der wichtigsten intellektuellen Stimmen seines Landes. Heute früh hat er einen Appell veröffentlicht, der sich an die Bürger der Europäischen Union richtet. "Wir können die Proteste nicht stoppen", schreibt Andruchowytsch darin, "denn das würde bedeuten, dass wir mit einem Land in der Form eines lebenslangen Gefängnisses einverstanden wären." Kurz vor der Sendung habe ich Jurij Andruchowytsch gefragt, wie er die Situation in seinem Heimatland an diesem Freitag beurteilt.
    Juri Andruchowytsch: Die Gespräche, die Verhandlungen zwischen drei Oppositionsführern und dem Herrn Janukowitsch sind nur ein Teil des Prozesses und sie stehen heute nicht im Zentrum der Ereignisse. Im Zentrum steht der Aufstand, im Zentrum steht die Gesellschaft, die massenhaft protestiert, die auch in verschiedenen Regionen die Regierungsgebäude besetzt. Das ist eine Revolution, die schon in dem ganzen Territorium des Landes stattfindet. Und die drei Herren, die heute sozusagen als Oppositionsführer wirken, die drei politischen Führer, die sind eigentlich nur die Instrumente in diesem Aufstand. Deswegen können sie, sie dürfen keine Entscheidungen selbstständig machen. Sie kommen wieder zum Maidan und fragen die Protestierenden, ob sie dem Janukowitsch zusagen dürfen oder nicht. Gestern gab es die Antwort auf dem Majdan, die Antwort von 100.000 Leuten war: Nein, wir haben kein Vertrauen in den Vorschlag von Herrn Janukowitsch und ihr, unsere lieben Oppositionsführer, ihr sollt aus dieser Verhandlung weggehen.
    Kapern: Was bedeutet das für den Fortgang der Proteste? Welche weitere Entwicklung sehen Sie?
    Andruchowytsch: Ich denke, die Machthaber, die sollen einfach realisieren, dass das Land schon völlig anders ist, dass die Proteste sich immer mehr verbreiten und dass sie keinen anderen Weg haben, nur kapitulieren.
    Kapern: Hier im Westen in den Zeitungen wird darüber spekuliert, Herr Andruchowytsch, ob die Proteste nicht abgebrochen werden sollten, weil die Demonstranten, die Opposition sich gegen die Staatsmacht ja offenbar nicht durchsetzen kann und es zu einer immensen Gewaltanwendung kommt. Was antworten Sie auf solche Überlegungen?
    Andruchowytsch: Ja das ist natürlich auch möglich, aber das wäre das schlechteste Szenario. Ich habe sehr viel Hoffnung, dass die Staatskräfte, also die Polizei vor allem, dass die Leute schon einigermaßen auf die Seite von der Bevölkerung, von der Gesellschaft kommen werden. Eigentlich hängt alles nur davon ab, wie massenhaft diese Proteste werden. Und im Moment werden sie immer massenhafter und, wie gesagt, verbreiten sich auf die weiteren Regionen des Landes.
    Kapern: Gibt es irgendetwas, was Sie sich von den Menschen, von den Regierungen in der Europäischen Union wünschen, was sie tun können, um die Proteste zu unterstützen und zu einem Erfolg zu führen?
    Andruchowytsch: Ja. Ich denke, die Leute in der EU sollen vor allem uns verstehen. Wir hatten schon keine andere Möglichkeit, unsere Zukunft, unsere Rechte, unser Schicksal zu verteidigen. Das war die Notwendigkeit, diese Proteste einigermaßen zu verbreiten, diesen Maidan territorial zu vervielfachen als das einzige Instrument, das diese Situation beeinflussen kann. Ich denke, vor allem haben die Ukrainer heute für die europäischen Werte schon viel ihres Blutes vergossen, und das muss man irgendwie einschätzen. Das muss man gut verstehen, dass wir eigentlich hier innerhalb der Ukraine sehr für Europa kämpfen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.