"Schließt Euch uns an!", rufen die Demonstranten vor einer Kaserne in Kiew.
Während der Proteste seit Ende November gegen das Ende des EU-Integrationsprozesses der Regierung ist die Atmosphäre vor allem in der Hauptstadt phasenweise sehr aufgeheizt. Immer wieder warnen Oppositionspolitiker wie Vitali Klitschko vor der Ausrufung des Ausnahmezustands. Befeuert wurden die Spekulationen, als der Verteidigungsminister eine schriftliche Erklärung abgab, in der er seine Treue zum Präsidenten bekundete. Ganz im Stil der früheren Kreml-Astrologie wurde diese Stellungnahme als ein mögliches Zeichen für einen Marschbefehl an die Armee gelesen.
Roman Bessmertnij, ehemals Botschafter der Ukraine in Weißrussland und heute Politikberater, hält diese Aufregung für unbegründet.
"Die Armee ist heute absolut neutral und die Erklärung des Ministers geschah nur auf Geheiß der Präsidialverwaltung."
Die Demonstranten vor der Kaserne jedoch machten sich Sorgen.
"Wir wollen die Streitkräfte daran erinnern, wem sie zu dienen haben und welche Befehle sie erfüllen müssen, nämlich die des ukrainischen Volkes. Ihm, dem Volk, haben sie ihren Eid geschworen."
"Ich bin sicher, dass die Soldaten hoffen, dass das alles bald vorbei ist und dass sie, wenn es darauf ankäme, auf die Seite des Volkes wechseln würden, aber viele von ihnen fürchten das Militärtribunal."
Das Militär hasst die Polizei
Laut dem Politologen Bessmertnij sei es ein offenes Geheimnis, dass die Armee die Polizei hasst, vor allem die Spezialkräfte. Was weniger mit Ideologie oder Politik zu tun hat, als vielmehr mit Geld.
"Es ist eine Tatsache, dass die Stimmung in der Armee gegen die Regierung ist. Die Streitkräfte bestehen heute aus gerade mal 100.000 Mann und sind völlig unterfinanziert. Gut und sogar überfinanziert sind die 400.000 bis eine halben Million Mann der Truppen des Innenministeriums, vor allem der Spezialkräfte."
Die Armee wird nicht gegen Demonstranten eingesetzt, selbst wenn die sich Straßenschlachten mit der Polizei liefern sollten, ist sich Roman Bessmertnij sicher. Denn:
"Die Armee-Einheiten sind hauptsächlich im Westen des Landes stationiert. Das rührt noch aus Sowjetzeiten. Der Westen ist Region des Landes, die dem Präsidenten am kritischsten gegenüber steht. Die Ausrufung des Ausnahmezustandes würde zu einer rasanten Beschleunigung des Falls des Regimes Janukowitsch führen."
Gut bezahlte Sicherheitskräfte
Die Sondereinheiten der Polizei dagegen sind gefürchtet. Die Truppenstärke von Berkut und Sokol, was übersetzt Steinadler und Falke heißt, liegt zusammen bei 15.000 Mann.
"Bei ihnen ist das etwas völlig anderes als bei der Armee, sie werden gut bezahlt, sogar übermäßig. Man sagt, dass wer in der Absperrkette steht, 1000 Grwima für einen 24-Stunden-Einsatz bekommt. Wer selbst aktiv gegen die Demonstranten vorgeht, dem werden 3000 Griwna bezahlt, Offiziere erhalten 5000 bis 6000 Griwna zusätzlich. In der Zeit der Demonstrationen betraf das rund 1000 Mann, von diesen Spezialkräften kann eine große Gefahr ausgehen."
Die Berkut-Polizisten gelten als sehr gut ausgebildet, es fänden ständig psychologische Trainings statt.
"Berkut sucht laufend Männer, die auf Menschen schießen können. Diese Spezialkräfte können ein echtes Problem darstellen, aber sie sind eben 15.000. Bei Demonstrationen von mehreren Hunderttausend Menschen oder einer Million sind auch sie zu wenig."
Eine Demonstrantin sagt: "Wir ukrainischen Mütter bitten euch, schießt nicht auf eure Brüder und Schwestern. Sie würden bestimmt gern auf unserer Seite sein, und ich hoffe, dass sie es schon jetzt sind. Aber noch können sie nicht."
Als die Demonstranten vor dem Militärgelände die Hymne anstimmten, salutierten die Soldaten und schauten freundlich auf die Zivilisten vor dem Tor.