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Ukraine
Die Unsicherheit der Juden in der Ukraine

In den vergangenen Monaten wurden Juden und Synagogen in Kiew und im Osten der Ukraine immer wieder angegriffen. Die jüdische Gemeinde in Kiew baut deshalb nun eine Selbstschutzgruppe auf.

Von Ines Burckhardt | 22.05.2014
    Etwa 40 Männer mit Kippa und Gebetsschal stehen zwischen den Bänken und wiegen sich im Takt der Gesänge. Einige Frauen schauen von der Empore herunter, jede liest in einer Torah. Es ist Shabbat. Aber voll besetzt ist die Brodsky Synagoge, eine der Hauptsynagogen in Kiew, an diesem Tag nicht.
    In der ukrainischen Hauptstadt leben rund 110.000 Juden. Glaubt man dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, so sind die Juden des Landes in Gefahr. Denn die aktuelle Übergangsregierung der Ukraine sei faschistisch und antisemitisch eingestellt.
    Man solle Putins Propaganda nicht glauben, sagt ein älterer Mann, der gerade aus der Synagoge kommt. "Es ist alles ruhig hier, keinerlei Probleme. Das, was Putin über Antisemitismus erzählt, ist glatt gelogen! Hier leben Ukrainer und Juden sehr friedlich miteinander."
    Ein anderer war vor einigen Monaten mit auf dem Maidan und hat dort gegen Janukowitsch protestiert. Er glaubt, dass sich das Verhältnis zwischen Juden und Ukrainern sogar verbessert hat. "Wenn man zusammen auf den Barrikaden steht, schweißt es irgendwie zusammen."
    Ein schüchterner junger Mann steht auf den Eingangstreppen der Synagoge. Er äußert sich als Einziger besorgt: "Wenn man auf dem Maidan rumläuft, dann habe ich schon etwas Angst, vor allem, wenn man eine Kippa trägt. Man könnte überfallen werden, wenn sie merken, dass du Jude bist. Sie kommen dann zu Dir und fangen an, Fragen zu stellen: Warum läufst du hier mit einer Kippa rum?"
    Vor zehn Jahren war die Sicherheit schlechter
    In den vergangenen Monaten gab es einige Angriffe auf Juden und Synagogen, in Kiew und im Osten des Landes. Ein Mann wurde auf dem Weg von der Synagoge nach Hause verfolgt und mit einem Messer attackiert.
    In Donesk, im Osten des Landes, verteilten Separatisten Flyer in einer Synagoge. Darauf stand: Juden sollten sich registrieren lassen und Bußgelder entrichten, weil ihre Rabbis für die ukrainische Regierung seien. Wer sich weigere, werde enteignet. Einige jüdische Institutionen, darunter die Jewish Agency, gaben daraufhin bekannt, der jüdischen Gemeinschaft in der Ukraine zu helfen, die Sicherheit zu erhöhen.
    Er wolle die Lage nicht dramatisieren, sagt Tzveli Arieli. Er ist aktives Mitglied der jüdischen Gemeinde in Kiew. Vor zehn, zwanzig Jahren sei die Sicherheit für Juden viel schlechter gewesen. Trotzdem baut Arieli in Kiew derzeit eine Selbstschutzgruppe auf. Der Oberrabbiner der Ukraine, Yaakov Bleich, hatte vor einigen Wochen darum gebeten. "Alle Ukrainer sind im Moment nicht in Sicherheit. Aber die Juden sind noch gefährdeter als die anderen. Weil sie in jedem Konflikt als politische Karte missbraucht werden."
    Arieli vermutet, dass pro-russische Separatisten hinter den Angriffen auf Juden stehen – um die ukrainische Regierung beschuldigen und ihr Antisemitismus vorwerfen zu können. "Die früheren Angriffe auf Juden waren alle spontan. Nicht so, wie es jetzt passiert. Jetzt folgen sie alle paar Wochen einem Juden und schlagen ihn zusammen - organisiert. Wir beobachten einen Trend. Es geht um politische Ziele."
    Tzveli Arieli wurde in der israelischen Armee ausgebildet. Während der zweiten Intifada zur Jahrtausendwende war er Teil der Elitetruppe "Golani". Sein Körper wirkt durchtrainiert. Er ist höflich und sehr ernst.
    Wenn mehr Spenden eingehen, werden Waffen gekauft
    Vor zwei Wochen ist Arieli wieder nach Israel geflogen. Sein Auftrag: Waffen und andere Ausrüstung für die Gruppe zu organisieren. Alles, was sie bis jetzt haben, sind Baseballschläger. Einige schusssichere Westen hatte Arieli aus Israel mitgebracht. Wenn mehr Spenden eingehen, werden sie Waffen kaufen, um die jüdische Gemeinde zu schützen.
    Die acht Männer der Gruppe, darunter Anwälte, Ökonomen und ein Nicht-Jude, trainieren zurzeit ein bis zwei Mal die Woche. Fast alle haben eine militärische Ausbildung, einer ist Boxer. "Wir gehen nicht auf die Straße mit Waffen. Wir wollen andere nicht provozieren. Aber falls es Krieg gibt, werden wir da sein." Grundsätzlich verstehen sie sich als "schnelle Eingreiftruppe", die bei Angriffen zu Hilfe eilt. Ihr Vorbild sind ähnliche Gruppen in Israel.
    Die ukrainischen Behörden waren mit der Gründung der Selbstschutzgruppe einverstanden. Die Übergangsregierung, sagt Arieli, sei sehr Juden-freundlich. Aber Polizei und Armee seien schlecht ausgebildet. Sollte es wieder zu Unruhen kommen, könnten die die Juden nicht beschützen.
    Dass die ukrainische Regierung antisemitisch eingestellt ist, hält auch Joseph Zissels für russische Propaganda. Er ist Vorsitzender der Vereinigung jüdischer Organisationen in der Ukraine und Vizepräsident des Jüdischen Weltkongresses. Er ist ein gefragter Gesprächspartner in diesen Tagen. Gerade kommt er aus den USA, in Kürze fliegt er weiter nach Polen.
    Selbst die nationalistische Partei Swoboda, die zurzeit drei Minister stellt, sei nicht judenfeindlich. "Einige Mitglieder von Swoboda sind antisemitisch. Aber Swoboda ist keine antisemitische Partei. Es gibt nichts Antisemitisches in ihrem politischen Programm. Swoboda ist eine radikale demagogische Partei. Sie reden nur und handeln nicht."