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Ukraine-Konflikt
"Russland agiert irrational"

Grünen-Chef Cem Özdemir hat sich gegen Waffenlieferungen an die Ukraine ausgesprochen. Im Konflikt mit der Atommacht Russland könne es keine militärische Lösung geben, sagte Özdemir im DLF. Nur durch weitere Sanktionen könne man Putin klar machen, "dass es so nicht weitergehen kann".

Cem Özdemir im Gesräch mit Silvia Engels | 10.02.2015
    Cem Özdemir, Co-Vorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen
    Cem Özdemir, Co-Vorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen (dpa / Bernd von Jutrczenka)
    Der Grünen-Co-Vorsitzende Cem Özdemir sagte im Deutschlandfunk, Russland agiere irrational und aggressiv. Es dürfe Präsident Wladimir Putin nicht gelingen, den Westen auseinanderzudividieren. Umso wichtiger sei es, dass die EU und Amerika eine gemeinsame Ukraine-Strategie entwickelten.
    Özdemir zeigte Verständnis dafür, dass Kanzlerin Merkel Waffenlieferungen an die ukrainische Armee ablehnt. Mit Blick auf die Haltung seiner Parteikollegin Marieluise Beck, die Waffenlieferungen grundsätzlich nicht ausschließen will, appellierte er, "die Sache vom Ende her zu denken". Russland sei so gut ausgerüstet, dass Waffenlieferungen an die Ukraine nur eine ähnliche Situation wie in Zeiten des Kalten Krieges provozieren werde - ein permanentes Aufrüsten.
    Sinnvoller wäre es, die Wirtschaftssanktionen weiter zu verschärfen. Eine Möglichkeit sei dabei, den russischen Banken den Zugang zum Zahlungssystem SWIFT zu versperren.
    Özdemir unterstrich, eigentlich habe man viele gemeinsame Interessen mit Russland, etwa im Kampf gegen den Terror. Das müsse man Moskau klar machen.

    Das Interview in voller Länge:
    Silvia Engels: Man hat ja mittlerweile den Eindruck, Angela Merkel regiere nur noch vom Flugzeug aus. Nach Station in Kiew, in Moskau, in München und in Berlin hat sie nun ihren Besuch in Washington und auch den in Ottawa schon wieder beendet. Sie ist auf dem Rückflug. Gerade hatte sie noch gemeinsam mit dem kanadischen Premierminister Harper die Ukraine-Krise besprochen und morgen ist sie möglicherweise schon wieder auf dem Weg in die weißrussische Hauptstadt Minsk, um dort eine Gipfelteilnehmerin zu sein. Die Vielfliegerei der Kanzlerin hat natürlich einen Grund: die dramatische Eskalation in der Ukraine.
    Am Telefon ist Cem Özdemir, einer der Parteivorsitzenden der Grünen. Guten Morgen, Herr Özdemir.
    Cem Özdemir: Guten Morgen, Frau Engels.
    Engels: Ist Kanzlerin Merkels Nein zur Lieferung von Verteidigungswaffen an die Ukraine ganz in Ihrem Sinne?
    Özdemir: Ich kann es gut verstehen, denn man muss es vom Ende her denken. Natürlich kann man die Position vertreten, so wie es die Amerikaner sagen, dass man Waffen liefert, Defensivwaffen an die Ukraine, und hofft, dass dadurch Russland quasi auch finanziell in die Knie gezwungen wird und die Kosten für Russland höher werden.
    Aber man muss wissen: Russland ist gut bestückt. Das Arsenal an Waffen ist gut bestückt. Für jede Lieferung von uns werden sie eine neue Lieferung machen. Und am Ende darf man nicht vergessen: Wir haben es hier mit einer Nuklearmacht zu tun.
    Westen muss "gemeinsam eine Ukraine-Strategie entwickeln"
    Engels: Sollte man aber zumindest, wie ja auch in den USA von einigen Stimmen gefordert, diese Drohung auf dem Tisch lassen, um von Russlands Präsident Putin Zugeständnisse zu bekommen?
    Özdemir: Wenn man es am Ende nicht macht, dann kann man sich das überlegen, ob das tatsächlich was bringt oder nicht. Aber auch das wird nur wirksam sein, wenn die Europäer und die Amerikaner zusammenstehen.
    Es macht keinen Sinn, dass man unilaterale Lösungen macht, sondern die Europäer unter sich und die Europäer und die Amerikaner müssen gemeinsam eine Ukraine-Strategie entwickeln. Herrn Putin darf es nicht gelingen, dass er den Westen auseinanderdividiert. Das ist das, worauf er hofft. Da fängt er in Europa damit an, dass er hofft, dass er mit Griechenland, mit Ungarn, vielleicht sogar mit Bulgarien unsichere Kantonisten hat, die in Brüssel am Verhandlungstisch sitzen und beispielsweise verhindern, dass Sanktionen künftig verlängert werden, oder gar neue Sanktionen ergriffen werden.
    "Es gibt keine militärische Lösung"
    Engels: Ihre Parteifreundin und Ukraine-Kennerin Marieluise Beck will Waffenlieferungen an Kiew nicht ausschließen. Sie verlangt eine offene Debatte dazu. Was sagen Sie?
    Özdemir: Wie gesagt, man muss es vom Ende her denken, was das bedeutet. Das kann eben auch bedeuten, dass nachher am Ende des Tages sich eine Atommacht mit dem Westen gegenüberstehen.
    Für mich ist klar: Es gibt keine militärische Lösung. Und wenn es keine militärische Lösung gibt und wenn man gleichzeitig sagt, Putins Vorgehen in der Ukraine, nämlich dass er das Land de facto oktroyiert, das Land de facto besetzt, kann nicht ohne Konsequenzen bleiben, allein schon deshalb, weil offensichtlich klar ist, er wird sich damit nicht zufrieden geben - was ist, wenn er irgendwann sagt, auch im Baltikum gibt es russische Minderheiten, vielleicht muss ich die auch noch schützen, vielleicht gibt es ja irgendwie auch in Ostdeutschland russische Minderheiten, die es zu schützen gibt -, Russland agiert irrational, Russland agiert aggressiv und dann muss klar sein, wenn man militärische Mittel ausschließt, dann muss man es mit den Sanktionen ernst meinen, muss sie erstens in Kraft lassen und muss möglicherweise auch neue Sanktionen einsetzen.
    Russland muss klar sein: "Das kann so nicht weitergehen"
    Engels: Marieluise Beck argumentiert aber auch noch auf einer anderen Ebene. Sie sagt in der "Süddeutschen Zeitung", auf die ethische Frage, ob man einem Verteidiger jede Aufrüstungshilfe grundsätzlich verweigern könne, antworte sie mit einem klaren Nein. Sind die Grünen hier gespalten?
    Özdemir: Nein, das sind sie nicht. Da hat sie ja prinzipiell auch nicht ganz unrecht. Wir haben das ja auch schon mal anders beantwortet: Nehmen Sie den Fall Bosnien, nehmen Sie aber auch den Fall im Irak/Kurdistan. Man muss es aber von Fall zu Fall entscheiden.
    Ich sage noch mal: Hier haben wir es mit einer Nuklearmacht zu tun. Das wissen wir alle. Und ich sage auch nochmals: Man muss die ökonomischen Kosten für den weiteren Vormarsch Russlands ins Untragbare steigern.
    Ich glaube nicht, dass wir da bislang alle Möglichkeiten ausgeschöpft haben. Man muss Russland klar machen, dass die Finanzsanktionen noch verschärft werden können. Denken Sie beispielsweise daran, wenn wir drohen, dass die russischen Banken aus dem Zahlungsverkehr SWIFT ausgeschlossen werden für den Fall, dass Russland weitermacht, indem es beispielsweise Debalzewo einnimmt oder Mariupol angreift.
    Also noch mal: Ich bin mir völlig einig mit Marieluise Beck und allen bei uns.
    Wir müssen Russland klar machen, jeder weitere Versuch, dass man einerseits verhandelt und andererseits Fakten schafft vor Ort, indem man seine Truppen voran schickt, kann nicht akzeptiert werden. Aber der Weg dazu ist, dass wir das gemeinsam machen in Europa mit den Amerikanern und indem wir die Sanktionen, die wir schon haben, die übrigens Russland wehtun, so verschärfen, dass Russland klar ist, das kann so nicht weitergehen.
    "Russland verrennt sich gegenwärtig"
    Engels: Bleiben wir noch mal bei dieser ethischen Komponente. Bei der Frage, ob man kurdische Kämpfer im Kampf gegen IS mit Waffen ausstatten soll, haben Sie sich dafür eingesetzt vor wenigen Monaten. Sie haben es eben auch schon angedeutet. Und das gilt nun nicht für die Ukraine, weil in diesem Fall auf der anderen Seite eine Nuklearmacht steht? Das heißt, das Recht des Stärkeren?
    Özdemir: Nein, und weil Russland militärisch dermaßen überlegen ist, dass jede Waffenlieferung dazu führen würde, dass es vermutlich sein Ziel nicht erreichen würde, weil es ist ja nicht nur so, dass wir Waffen liefern würden, sondern das nächste Problem ist ja, dass die ukrainische Armee wahrscheinlich gar nicht in der Lage wäre, sie so einzusetzen, dass es aus ihrer Sicht von Erfolg gekrönt wird.
    Es gibt keine militärische Lösung. Übrigens ich war ja bei der Sicherheitskonferenz in München dabei und auch Senator McCain hat das ja selber gesagt, dass er nicht glaubt, dass die Ukraine dadurch gewinnen würde, sondern er sieht dadurch eine Parallele zum Kalten Krieg, dass man Russland in so eine Aufrüstung zwingt, dass es dem finanziell nicht gewappnet ist. Ich finde, was man Russland sagen muss ist: Russland verrennt sich gegenwärtig.
    Russlands Problem ist doch nicht die Europäische Union, Russlands Problem ist nicht, dass die Ukraine frei von Korruption sein möchte, dass sie ein Land sein möchte, wo die Leute frei leben können, sondern Russlands Problem ist im Kaukasus, was dort gerade mit ISIS passiert.
    Man muss Russland klar machen, wir haben viele gemeinsame Interessen im Kampf gegen den Terrorismus, im Nordkaukasus beispielsweise, wir haben viele gemeinsame Interessen, dass niemand von uns wollen kann, dass Russland kollabiert. Aber Russland hat das selber in der Hand und das muss man vor allem der russischen Mittelschicht klar machen. Der Weg, den Putin geht, der schadet vor allem Russland.
    Sanktionen gegen Russland "müssen gegebenenfalls auch verschärft werden"
    Engels: Sie heben sehr stark auf Russland ab. Beim Stichwort Waffenlieferungen an Kiew warnen Kritiker allerdings auch davor, dass neben der ukrainischen Armee auch rechte und nationale Freiwilligenverbände existieren, die auch kämpfen, aber die nicht immer von Kiew kontrollierbar seien. Sollte man auch deshalb keine Waffen schicken, damit diese nicht in die falschen Hände kommen?
    Özdemir: Das ist sicher richtig. Aber ich warne auch ein bisschen davor, dass man jetzt - ich meine, ich bin hier gerade zuhause in Berlin, die Wohnung ist schön beheizt, und ich weiß nicht, wo Sie gerade sitzen, aber wenn man sich vorstellt, wir diskutieren das gerade irgendwie vielleicht bei einer Tasse Kaffee, während in der Ukraine Menschen sterben, während Kinder sich zurückziehen aus Angst und die Ohren zuhalten angesichts der Waffengeräusche.
    Da muss man auch ein bisschen, glaube ich, die Kirche im Dorf lassen. Bei allen Wahlen in der Ukraine haben die Rechtsradikalen nicht nur keine Zustimmung bekommen, sondern sie haben dramatisch verloren. Das heißt, die Menschen in der Ukraine wollen keine Rechtsradikalen. Sie wollen Demokratie. Sie wollen ein Ende des Oligarchen-Regimes. Sie wollen so leben wie die Menschen in Berlin, wie sie in Deutschland leben dürfen. Und sie haben das Recht dazu. Herr Putin sieht das anders.
    Herr Putin möchte seinen Machtbereich ausdehnen. Er will nicht, dass Menschen, die früher in der Sowjetunion gelebt haben, jetzt in einer Demokratie leben dürfen, und das muss man ihm klar machen: Er hat das Recht dazu nicht, weder in der Ukraine, noch im Baltikum, noch irgendwo sonst. Das muss man ihm sehr unmissverständlich klar machen. Darum müssen die Sanktionen nicht nur bleiben, sondern sie müssen angesichts dessen, dass Herr Putin vor Ort versucht, Fakten zu schaffen und sich über das Minsker Abkommen hinwegzusetzen, sie müssen gegebenenfalls auch verschärft werden.
    "Westen muss mit einer Stimme agieren"
    Engels: Können Sie sich dann, wenn wir es noch einmal anders herum drehen, dann einen Punkt der Eskalation der Kämpfe vorstellen, an dem Sie Ihre Meinung zu Waffenlieferungen noch mal überdenken?
    Özdemir: Nicht, wenn wir das alleine machen, beziehungsweise wir sind ja da gar nicht gefragt, wenn die Amerikaner das alleine machen, sondern ich sage nochmals: Wichtig ist in der Auseinandersetzung mit Herrn Putin, dass der Westen zusammensteht. Das muss zu allen Zeitpunkten gewährleistet sein. Denn wenn es erst mal losgeht, dass der Westen nicht mehr mit einer Stimme agiert, dann kann Herr Putin versuchen, die Europäische Union auseinanderzudividieren, und wird dann möglicherweise Erfolg haben.
    Engels: Cem Özdemir, einer der Parteivorsitzenden der Grünen. Wir haben ihn noch zuhause erreicht. Ich danke Ihnen, dass Sie sich trotzdem Zeit genommen haben. Einen guten Morgen, Herr Özdemir.
    Özdemir: Gerne! Schönen Tag!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.