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Ukraine-Konflikt
Zarte Wurzeln des Protests in Russland

Für Russlands Präsident Putin ist die Vorstellung, dass Menschen einen Herrscher wegdemonstrieren können, eine Schreckensvorstellung. Und so mobilisiert der Kreml einiges, um Proteste im eigenen Land zu verhindern. Doch gehen sowieso nur vereinzelt Menschen gegen Russlands Aggression in der Ukraine auf die Straße.

Von Gesine Dornblüth |
    Am Schukow-Denkmal in Moskau protestieren einige Menschen gegen die Politik Putins.
    Am Schukow-Denkmal in Moskau protestieren einige Menschen gegen die Politik Putins. (Deutschlandradio/Gesine Dornblüth)
    Eine Frau verteilt selbstgebackene Kekse: Kleine Männchen und Herzen aus Teig, darauf steht in Zuckerguss "Frieden". Etwa 30 Menschen haben sich an diesem Abend auf dem Manegeplatz am Kreml versammelt, am Fuß des Reiterdenkmals für Marschal Schukow, der die Sowjetarmee nach Berlin führte. Sie reden, trinken Tee. Einige beten, manchmal gibt es Kurse in Erster Hilfe. Es sind Linke, Liberale, Rechte. Alte und junge, Frauen und Männer. Sie eint der Wunsch nach Veränderungen und die Abscheu über Russlands Aggression gegen die Ukraine. Sie stehen jeden Abend hier, seit einem Monat, mehrere Stunden. Ohne Losungen. Ohne Plakate. Und bisher auch ohne konkreten Plan. Der Journalist Jewgenij Lewkowitsch hatte die Idee.
    "Wir versammeln hier die Reste der Protestbewegung. Wir sind bereit, radikal gegen die Macht zu kämpfen. Nicht mit Waffen. Aber es wäre schön, wenn hier Leute herkämen, die bereit sind, sich jeden Tag erneut friedlich einzusetzen."
    "Wir brauchen einen Machtwechsel"
    Anlass für die Treffen sei die Festnahme eines Freundes gewesen, erzählt Lewkowitsch. Dieser Freund, Mark Galperin, seit Jahren in der Protestbewegung aktiv, hatte auf dem Roten Platz ein Schild "Je suis Charlie" hochgehalten. Solche Einzelkundgebungen sind auch in Russland erlaubt. Trotzdem musste Galperin für 30 Tage ins Gefängnis. Vor einigen Tagen kam er frei. Inzwischen hat er seinen Job verloren, nun steht auch er am Schukow-Denkmal.
    "Wir brauchen einen Machtwechsel. Wir suchen nach Wegen. Wahlen scheiden aus, denn es gibt in Russland nur Pseudowahlen. Da bleibt logischerweise nur, eine große Zahl von Gleichgesinnten zu sammeln. Wir haben hier erst mal einen Treffpunkt festgelegt."
    Michail Kerzer nickt. Er ist Kinderarzt.
    "Sobald sich zu den 30 Leuten hier eine halbe Million hinzugesellt, verändert sich sofort etwas. Dann hören die Militärs auf, verbrecherische Befehle zu befolgen. Und die Miliz wacht dann über die öffentliche Ordnung, statt Banditen zu unterstützen."
    Doch nicht alle sind so optimistisch. Der Rentner Andrej Marguljow.
    "Ich sehe leider keine Möglichkeit, auf die Ereignisse einzuwirken. Ich bin einfach hier, weil ein anständiger Mensch sich nicht schweigend mit dem abfinden kann, was passiert."
    Bisher lässt die Polizei sie gewähren. Die Beamten stehen in Sichtweite, greifen aber nicht ein. Mehr Angst hätten sie vor Provokateuren, erzählt Marguljow. Kremltreue Gruppen haben angekündigt, jede Form von Protest in Russland zu verhindern, notfalls auch mit Gewalt.
    "Aber uns schützt das Schukow- Denkmal. Das bewirft man nicht mit Fäkalien. Das ist ja deren liebste Methode."
    Protest-Video von Studenten
    Die Gruppe am Schukow-Denkmal ist nicht die einzige, die gegen die Politik des Kreml protestiert. Vor einigen Tagen veröffentlichten russische Studenten ein Video im Internet.
    Ein knappes Dutzend junger Leute stehen in Moskau und St. Petersburg im Schnee. Nacheinander treten sie vor die Kamera.
    "Wir schämen uns dafür, dass unser Land die territoriale Integrität der Ukraine verletzt und die Krim annektiert hat. Wir schämen uns für diesen nicht erklärten, verbrecherischen Krieg."
    Es ist die Antwort auf eine Videobotschaft ukrainischer Studenten. Die hatten ihre russischen Kommilitonen aufgerufen, Propaganda zu hinterfragen, nachzudenken. Die Petersburger und Moskauer Studenten bitten daraufhin um Verzeihung.
    "Prostite nas."
    Auf YouTube wurde das Video innerhalb einer Woche rund 20.000 mal aufgerufen. Zuvor hatten allerdings bereits kremltreue Studenten Antworten verfasst. Und deren Videos, gespickt mit Vorwürfen gegen die ukrainischen Studenten, wurde bis zu zwei Millionen Mal geklickt.
    Umfragen zufolge, ist das Protestpotenzial in Russland gering. Rund 80 Prozent der Bevölkerung unterstützen Präsident Putin. Auch an der Gruppe am Schukow-Denkmal gehen die meisten Passanten achtlos vorbei, erzählt Michail Kerzer, der Kinderarzt.
    "Ich glaube, es ist unmöglich, die Leute zu überzeugen. Andererseits hat der Maidan gezeigt, dass es doch möglich ist. In Kiew sind genau solche Sowjetmenschen auf die Straße gegangen wie wir. Sobald sich die Leute ihrer Würde erinnern, wird sich etwas verändern."