Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Ukrainische Kriegsgefangene
Mit amputierten Händen, aber ungebrochenem Willen

Das Minsker Friedensabkommen zwischen der Ukraine und Russland ist in keinem Punkt umgesetzt, was für die Kriegsgefangenen auf beiden Seiten ganz besonders schmerzlich ist. Mitunter entscheidet ihre Freilassung über Leben oder Tod. Ein ukrainischer Freiwilligen-Kämpfer, der gerade noch rechtzeitig gerettet werden konnte, erzählt seine Geschichte.

Von Sabine Adler | 19.05.2017
    Wolodimir Schemtschugow
    Wolodimir Schemtschugow mit seiner Ehefrau Elena (Deutschlandradio/Sabine Adler)
    Mit schnellen Schritten eilt Wolodimir Schemtschugow in den Raum, er wirkt wie ein Intellektueller, mit seiner dicken Brille, hinter der die Augen nicht zu erkennen sind. Er streckt mir forsch seine Rechte entgegen. Keine Hand, eine Prothese. Der 47-Jährige schmunzelt, als sei ihm ein netter Scherz geglückt. "Sportsachen kann ich schon anziehen, aber Knöpfe schließen, ist zu kniffelig."
    Dem Unternehmer und freiwilligen Kämpfer fehlen beide Hände, die Prothesen sind neu. Seine Sehkraft kehrt zurück, er hört wieder gut, anders als nach den vielen Explosionen, die hochgingen, als er bei Lugansk in ein Minenfeld getreten ist - vor über drei Jahren.
    2014, beim Osterbesuch bei seiner Mutter in Krasnij Lutsch, bemerkte er die Barrikaden überall in der Ostukraine. Die Separatisten hatten kurz zuvor die Donezker und Lugansker Volksrepublik ausgerufen, Stadtverwaltungen besetzt. Er fühlte sich an Georgien 2008 erinnert, an die Provokationen von russischer Seite, die der georgische Präsident Saakaschwili mit Gewalt zu stoppen versuchte.
    Wolodimir Schemtschugow hat jahrelang eine Getränkeverpackungsfabrik in Georgien geleitet, wollte mit seiner Familie gerade in die ukrainische Heimat zurückkehren. Statt den Umzug zu organisieren, gründete er einen Freiwilligenverband. "Ich kaufte mit meinem Geld russische Waffen, Munition, Sprengsätze - für den Kampf gegen die russische Okkupation."
    Patient und Kriegsgefangener
    Von April 2014 an, anderthalb Jahre lang, bis er am 29.September 2015 im wahrsten Sinne vermintes Gelände betrat. "Ich kam ins Lugansker Bezirkskrankenhaus, wo mich die Separatisten noch auf der Intensivstation verhörten. Zwischen den Operationen hielten sie mir die Pistole an den Kopf wie bei Scheinerschießungen. Sie fügten mir mit einem Messer Schnittverletzungen am Körper zu, spritzten mit irgendetwas in den Arm, angeblich Erreger von irgendwelchen Infektionskrankheiten. Ich sollte reden. Sie haben mich geschlagen, aber nicht sehr, und gefoltert."
    Als er in die Klinik auf dem besetzten Gebiet eingeliefert wurde, hatte er seine Hände noch. Er war Patient und zugleich Kriegsgefangener. Wie viele die prorussischen Separatisten festhalten, ist unbekannt. "Man hielt mich nur am Leben. Behandelte nicht die Granatensplitter in den Beinen, im Bauch, der Brust, im Gesicht, auch die Hände nicht. Weil sie sich nur um die lebenswichtigen Organe kümmerten, mussten die Hände schließlich amputiert werden."
    Die Handprothese von Wolodimir Schemtschugow
    Wolodimir Schemtschugow trägt nun Handprothesen (Deutschlandradio/Sabine Adler)
    Er war fast blind. Sein Gehör kehrte allmählich zurück. "Irgendwann spritzten sie mir etwas und ich begann zu reden." Preisgegeben hatte er offenbar nichts, denn keiner seiner Kameraden geriet in Gefangenschaft, alle leben noch und setzen ihren Kampf fort. "Ich war kein Held. Ich war wegen der schweren Verletzungen bereit, alles zu riskieren. Denn was hatte ich zu verlieren, als Blinder ohne Hände? Zwischen durch wollte ich ohnehin sterben. Wie sollte ich leben - so schwer verletzt?"
    Von dem Lugansker Bezirkskrankenhaus wurde er in ein Gefängnis verlegt. Gewöhnliche Kriminelle sollte ihn, den Schwerkranken, Behinderten nun versorgen. "Ich erhielt keinerlei medizinische Versorgung mehr und hätte ich in meinem früheren Leben nicht so sehr auf meine Gesundheit geachtet, hätte ich in diesem Schmutz wahrscheinlich nicht überlebt."
    Gefangenenaustausch: Prinzip "alle gegen alle"
    Rund 150 Kriegsgefangene konnten bislang nach Hause zurück. Kiew fordert selbst die Freilassung weiterer 128 Personen. "Die Zahl von 128, ich verbürge mich nicht für diese Zahl, aber es ist eine Zahl, die ist mehrfach genannt worden von ukrainischer Seite, das stimmt", sagt der Schweizer Diplomat Toni Frisch gegenüber diesem Sender. Er ist im Auftrag der OSZE der Koordinator für humanitäre Frage im Minsker Friedensprozess und fügt hinzu, dass die Zahl der Kriegsgefangenen, die die Ukraine gemacht hat, weit größer ist. "Wir haben ein Mehrfaches in der Ukraine an Gefangenen. Ich würde Hunderte sagen."
    Als vor genau einem Jahr die Kampfpilotin Natascha Sawtschenko ausgetauscht wurde, hieß es, dass auch sich auch Wolodimir Schemtschugow Hoffnungen machen konnte. Doch erst im September war es so weit, nach 354 Tagen Kriegsgefangenschaft. "Um meine Freilassung haben sich die Bundesregierung, Angela Merkel, der Außenminister und Politiker von den Grünen bemüht. Sie organisierten auch meine Behandlung in Deutschland."
    In der Universitätsklinik Köln wurde er acht Mal operiert, mit seiner Familie lebt er jetzt als Binnenflüchtling in Kiew. "Ich kann wieder etwas sehen, lerne, mit den Handprothesen zurechtzukommen. Ohne diese Hilfe wäre ich vermutlich gestorben, denn ich hatte schlimme Wunden, die nicht behandelt worden sind."
    So sehr sich Wolodimir Schemtschugow über seine Freiheit freut, so sehr widerspricht die Freilassung einzelner dem Gedanken des Friedensprozesses von Minsk, sagt er. Denn dort heißt es zum Gefangenenaustausch: alle gegen alle. Ein Prinzip, für das er sich jetzt einsetzt.