Heinemann: Frau Merkel, was trennt Regierung und Opposition in der Rentenfrage noch?
Merkel: Es trennt uns leider doch noch eine ganze Menge. Wir stehen ja vor dem Umbau eines wichtigen sozialen Sicherungssystems. Erfreulich ist, dass alle Seiten jetzt akzeptiert haben, dass die gesellschaftliche Veränderung, die Altersstrukturveränderung in unserer Gesellschaft dazu führen wird, dass neben dem Umlageverfahren im Rentensystem auch eine private Vorsorge notwendig ist. Wir haben ausführlich darüber gesprochen, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit Arbeitnehmer die private Vorsorge überhaupt leisten können. Der Bundeskanzler hat hier gestern im Verlauf des Gesprächs einen Vorschlag unterbreitet, der von uns geprüft werden muss, der sicherlich im Einstieg noch recht mager ist, in der weiteren Entwicklung uns aber Spielräume lässt. Wir finden, dass die Familienkomponente dort noch nicht ausreichend entwickelt ist. Das werden wir prüfen. Es gibt aber noch einen weiteren gravierenden Punkt. Das ist einmal die Frage, wenn jemand durch das Renteneinzahlen keinen eigenständigen ausreichenden Anspruch auf Altersversorgung erworben hat, soll dann auf die Sozialhilfe zurückgegriffen werden in der Form, dass der Rückgriff auf Kinder aufgehoben wird. Da sind wir der Meinung, das widerspricht der Leistungsbezogenheit des Rentensystems und verführt Menschen zu sagen, ich kriege ja eh die Sozialhilfe. Als dritten Punkt haben wir ganz wesentlich das Problem, in welcher Art und Weise die Rentenbeiträge sinken. Der Bundesarbeitsminister hat hier einen Vorschlag gemacht mit einem sogenannten Ausgleichsfaktor, der aus unserer Sicht in unzulässiger Weise das privat aufzubauende Kapital und das Umlageverfahren miteinander verquickt. Das haben wir gebeten sollte noch einmal auf den Prüfstand gestellt werden. - Das sind die Punkte, wegen denen wir noch nicht sagen konnten, wir sind so weit, dass wir in eine Klausurtagung gehen und die Feinheiten klären.
Heinemann: Friedrich Merz hat gestern Abend in den "Tagesthemen" gesagt, 26 Prozent, zusammengesetzt aus 22 Prozent staatlichen Rentenbeiträgen und 4 Prozent privaten, das wäre zu viel. Die Union hat immer gesagt, mehr als 20 Prozent sind nicht drin. - Wie will man das alles schultern: Beiträge bei 20 Prozent, 19 Milliarden pro Jahr durch die steuerliche Entlastung der privaten Vorsorge ab 2008 und das ganze ohne Ökosteuer? Sie sind zwar Naturwissenschaftlerin, aber das ist doch die Quadratur des Kreises?
Merkel: Bezüglich der Ökosteuer haben wir gesagt, dass wir für diese Steuer nicht mit in Haftung genommen werden wollen, dass wir jetzt aber zur Kenntnis nehmen, dass sie in den Rentensystem bereits enthalten ist.
Heinemann: Was heißt das? Entschuldigung, das habe ich jetzt nicht verstanden. Wenn Sie meinetwegen ab 2002 die Regierung bilden würden, würde die Ökosteuer bestehen bleiben?
Merkel: Wir würden die Stufen, die jetzt im Rentensystem sind, nicht rückgängig machen können, aber wir würden keine neuen aufsetzen. Wir haben immer gesagt, wenn wir regieren, werden wir diese Ökosteuerspirale nicht fortsetzen und wollen deshalb auch dafür nicht in Haftung genommen werden. Zweitens: Wir haben nicht gesagt, dass die Beiträge insgesamt für die jungen Menschen nicht steigen dürfen, sondern wir haben gesagt, im Umlageverfahren sollen sie konstant bleiben, das heißt 20 Prozent oder unter 20 Prozent, weil ja noch die private Vorsorge von 4 Prozent dazu kommt. Das heißt also, das ist schon eine zusätzliche Belastung der jungen Generation gegenüber den heute älteren. Wir wollen aber nicht, dass im Umlageverfahren auch noch die Belastung wächst, denn ansonsten zahlen die jungen Leute mehr ein, bekommen eine negative Rendite heraus und müssen sich noch um die private Vorsorge kümmern. Das ist eine extreme Schlechterbehandlung der jungen Generation gegenüber den älteren.
Heinemann: Wo ist denn die Schmerzgrenze für die Beitragshöhe?
Merkel: Wir haben gesagt keine höhere Belastung aus dem Umlageverfahren für zukünftige Generationen, das heißt also bei etwa 20 Prozent.
Heinemann: Frau Merkel, wie stehen die Chancen für eine Einigung? Oder anders gefragt: droht uns 2002 ein Rentenwahlkampf?
Merkel: Die Chancen für eine Einigung stehen ich würde sagen auch nach dem gestrigen Gespräch auf der Kippe. Es gibt Fortschritte, aber es gibt auch noch viele ungeklärte Probleme. Wir haben es hier nach vielen Jahren auch doch der Problemverweigerung jetzt mit einem Prozess zu tun, in dem sich alle Parteien mit dem Thema intensiv auseinandersetzen. Ich finde, das muss jetzt auch nicht übers Knie gebrochen werden. Wenn die Regierung es übers Knie brechen will, dann muss sie diesen Weg alleine gehen. Wir haben aber gestern noch einmal angedeutet - und das wollen wir in den nächsten zwei Wochen auch versuchen -, auf informeller Ebene ohne diesen riesigen Erfolgsdruck auch der Öffentlichkeit noch einmal die Positionen auszutauschen. Wir wollen dieses große Werk auch versuchen, gemeinsam zu machen.
Heinemann: Frau Merkel, das Thema Steuer- und Rentenreform ist eines jener Beispiele, das Peter Müller in seine Kritik an der Parteiführung angefügt hat. Mal heißt es dort, das habe nichts miteinander zu tun, dann wird wieder ein Junktim hergestellt. Ein anderes Beispiel ist die Bundeswehrreform. Sie erinnern sich: gleichzeitig mit Ihrer Pressekonferenz kursierte damals das sogenannte Breuer-Papier. Oft hört man in Ihrer Partei Hü und Hott zum gleichen Thema. Wie ist diese Vielstimmigkeit zu erklären?
Merkel: Das glaube ich nicht. Was das Junktim zwischen Steuer- und Rentenreform anbelangt hat, haben wir diese Forderung ja an die Bundesregierung gestellt, dass es das nicht gibt. Das ist auch gestern von der Bundesregierung überhaupt nicht aufgemacht worden. Im Gegenteil: der Kanzler hat auch gesagt, etwas solches gibt es nicht. Wir haben uns im Präsidium vorgenommen - und darüber werden wir auch in den nächsten beiden Tagen sprechen -, dass wir in wichtigen politischen Punkten unsere gemeinsame Interessenlage definieren, und zwar aus dem Blickwinkel sehr unterschiedlicher Verantwortlichkeiten. Ob Friedrich Merz Oppositionschef im deutschen Bundestag ist oder Roland Koch und Peter Müller Ministerpräsidenten von Ländern, ob es Oberbürgermeister sind oder Landräte, das sind ja doch ganz unterschiedliche Perspektiven. Die CDU muss ihre gemeinsame Interessenlage als Bundespartei finden, um all diesen Ansprüchen gerecht zu werden. Da gibt es nicht das eine, entweder die Parteiführung sorgt dafür, dass wir alle einer Meinung sind, oder das andere, macht ihr in Berlin mal wozu ihr Lust habt, sondern da muss ein Weg gefunden werden, wo jeder Kompromisse eingeht. Das ist ein Stück weit meine Aufgabe, und darüber werden wir jetzt diskutieren.
Heinemann: Wer definiert denn dann die gemeinsame Linie, Sie?
Merkel: Nein, das muss natürlich das Präsidium gemeinsam machen. Als Vorsitzende kommt mir natürlich eine besondere Aufgabe zu. Es muss aber der Wille vorhanden sein um des gemeinsamen Ziels Willen - und wir wollen ja Wahlen gewinnen -, dann auch bereit zu sein, dass jeder einmal einen Kompromiss eingeht.
Heinemann: Stichwort: die Wirtschaft wächst, Arbeitslosigkeit und Haushaltsdefizit nehmen ab. Mit welchen Themen will die CDU die Bundestagswahl 2002 gewinnen?
Merkel: Ich glaube, es gibt eine Reihe von Themen. Wir haben neben dem Rentensystem ja das Gesundheitssystem, in dem es noch eine gravierende Zahl von Punkten gibt. Die CDU muss ihre Wirtschaftskompetenz wieder verbessern. Wir wollen die soziale Marktwirtschaft unter internationalen Bedingungen auch zu einem Schwerpunkt unserer Weiterarbeit machen: was bedeutet das für arbeitsrechtliche Regelungen, was bedeutet das für eine ganze Zahl von Gesetzen, wie können wir die new economy fördern. Wir wollen die Frage der inneren Sicherheit angesichts der internationalen Entwicklung wieder zu einem Schwerpunkt machen. Wir werden uns mit dem Thema Einwanderung und Zuwanderung beschäftigen. Die Union hat hier die Debatte erst einmal angestoßen; der Bundeskanzler wollte sie nicht führen. Für uns wird das Thema Wissensgesellschaft, Bioethik, auch die daraus resultierenden ethischen Probleme ein weiterer Schwerpunkt sein.
Heinemann: Ist der Benzinpreis campagnefähig?
Merkel: Der Benzinpreis oder die Ökosteuer hat so viele Lücken und Tücken, dass sie schon campagnefähig ist. Für uns wird aber ganz wichtig sein, unsere Sicht der Dinge nicht nur auf einem einfachen nein sagen aufzubauen, sondern den Menschen Richtung 2002 dann auch zu sagen wofür steht die CDU. Ich glaube viele Leute fragen sich nach dem personellen Neuanfang jetzt auch, wofür steht die Partei, und das ist ja auch verständlich. Mit neuen Personen ist das, was ursprünglich einmal durch Helmut Kohl und Wolfgang Schäuble symbolisiert war, vielleicht von vielen Menschen auch in Frage gestellt. Wir müssen von einem sicheren Fundament aus dann sagen, warum wir gegen bestimmte Dinge sind, aber vorher auch erst einmal sagen, welche Vorstellung von der Gesellschaft wir haben.
Heinemann: Frau Merkel, über eine Rentenreform und über Einwanderung müsste man nicht reden, gäbe es in unserem Land genügend Nachwuchs. Gibt es aber nicht. Dieses Thema wird in absehbarer Zeit die Arbeitslosigkeit von Platz 1 in der Liste der ungelösten Probleme verdrängen, denn die demographische Lage in der Bundesrepublik ist dramatisch. Wäre die Familienpolitik, und zwar eine, die sich jetzt nicht auf die Verteilung von ein paar 10-Mark-Scheinen beschränkt, nicht das Thema, mit dem die Union punkten könnte?
Merkel: Das wird es auch weiter bleiben. Ich habe es bis jetzt nicht erwähnt, weil wir ja bereits als ersten Schritt unserer programmatischen Erneuerung das Thema Familienpolitik auf den Plan genommen haben. Wir haben ja ein umfangreiches und auch sehr beachtetes Papier diskutiert. Wir werden diese Diskussion selbstverständlich fortsetzen. Wir haben uns zum Beispiel jetzt in der Rente für eine Familienkomponente eingesetzt. Familienpolitik ist eben keine Sektorpolitik, sondern sie muss bei allen gesellschaftlichen Dingen behandelt werden: wie geht es den Frauen in unserer Gesellschaft in der neuen Ökonomie, wie unterstützen wir die Kinder, welche Bildungsaufgaben können wir wahrnehmen. Wir werden den kleinen Parteitag Bildungspolitik am Ende dieses Jahren haben. Dort geht es ganz existenziell auch um die Frage der Schulen in Deutschland. Insofern ist die CDU dabei, wenn es um die Zukunft unserer jungen Leute geht.
Heinemann: Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel in den "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk. - Frau Merkel, haben Sie vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören!
Link: Interview als RealAudio