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Umbruch in der Türkei

In der Türkei ist die militärische Führung zurückgetreten, aus Kritik am Verhalten der Regierung, die Offizieren Putschversuche vorwirft. "Eine unglaubliche Geschichte", urteilt Korrespondent Reinhard Baumgarten. Denn über Jahrzehnte übte die Armee Macht über die Politik aus, setzte mehrfach zivile Regierungen ab.

Reinhard Baumgarten im Gespräch mit Friedberg Meurer |
    Friedbert Meurer: In der Türkei ist über das Wochenende praktisch die gesamte militärische Führung zurückgetreten. Das ist ein Vorgang mit Bedeutung weit über das Militärische hinaus, denn in der Türkei hat das Militär jahrzehntelang die Fäden in der Hand gehalten. Keine Entscheidung von größerer Tragweite konnte ohne die Militärs zustande kommen, und jemand hat mal nachgezählt: Zwischen 1960 und 1998 hat die Militärspitze in der Türkei viermal eine zivile Regierung abgesetzt. Das scheint sich mit dem Aufstieg der AKP unter Ministerpräsident Erdogan erheblich verändert zu haben und jetzt am Wochenende ist die komplette Militärspitze zurückgetreten und damit hat das Militär offenbar die Macht in der Türkei verloren.

    Reinhard Baumgarten begrüße ich in Istanbul. Wie interpretieren Sie das, was sich jetzt in den Reihen der Militärs abgespielt hat?

    Reinhard Baumgarten: Also, ich will nicht zu dick auftragen, aber ich würde es epochal nennen. Sie haben es ja schon gesagt: Viermal abgesetzt, dreimal ganz konkret geputscht, einmal den Kollegen Erbakan aus dem Amt gedrängt - das war eine ganz klare Drohung, wenn du nicht spurst, dann rollen die Panzer. Und was wir jetzt am Wochenende erlebt haben, das ist eine unglaubliche Geschichte. Ich würde es auch als ein demokratisches Reifezeugnis bewerten, ein demokratisches Reifezeugnis für eben diese Militärs, die nicht den Säbel gezogen, die nicht die Kanonen aufgestellt und eben nicht die Panzer losgeschickt haben, sondern gesagt haben, uns passt das nicht, was hier läuft, wir gehen. Ich finde das enorm und epochal!

    Meurer: Wieso sind sie gegangen?

    Baumgarten: Sie sind nicht einverstanden mit dem, was hier seit einigen Jahren läuft. Etwa 250 Offiziere der türkischen Armee, das ist ja immerhin die zweitgrößte der NATO, sind eingelocht, sind inhaftiert, ihnen wird vorgeworfen, auf die ein oder andere Weise gegen die Regierung Putschpläne ins Werk gesetzt zu haben oder zumindest derartige Planspiele vorgenommen zu haben, um sie dann in die Realität umzusetzen. Diese 250 Offiziere - da sind immerhin 43 Generäle drunter, also etwa ein Zehntel der Generäle der gesamten türkischen Streitkräfte -, die müssen sich jetzt eben auf der Anklagebank verantworten, und zwar auf zivilen Anklagebänken. Das hat es nicht gegeben vor Erbakan, nein, Erdogan - Sie sehen, Erbakan war der geistige Ziehvater von Erdogan -, das hat es nicht gegeben vor Erdogan. Erdogan hatte den Schneid, den Mumm und möglicherweise eben auch die Chuzpe zu sagen, Schluss damit, die Leute gehen vor ein ziviles Gericht und nicht nur vor Militärrichter, wo sie dann sowieso den Blankoscheck bekommen.

    Meurer: Es gibt ja in der Türkei einen regelrechten Kulturkampf zwischen, nennen wir sie, Islamisten und Kemalisten. Was wird jetzt mit der Armee geschehen? Noch ist sie ja in ihrem gesamten Offizierscorps von den Kemalisten beherrscht.

    Baumgarten: Ja, das ändert sich. Also, bis vor wenigen Jahren sind doch immer wieder auch Offiziere, vor allem höhere Offiziere aus der Armee rausgedrängt worden, sie wurden quasi unehrenhaft oder eben auch regulär entlassen, wenn sie wie auch immer geartete islamische Tendenzen offenbarten. Das hat sich gewandelt, jetzt ist es eher ein bisschen andersrum. Also, was jetzt gerade passiert, ist, dass man eben diesen Leuten, diesen sehr stark kemalistisch geprägten Leuten, die letztlich die Elite stellen, den Prozess macht, und dass man eben Offiziere, Militärs, die möglicherweise so ähnlich ticken, so ähnlich denken wie Abdullah Gül, der Staatspräsident, oder wie Recep Tayyip Erdogan, der Regierungschef, eben mit einem islamischen Hintergrund, dass man diese Leute jetzt eher befördert. Also, wir haben hier einen gesellschaftlichen Umbruch, der die Wirtschaft erfasst hat, die Gesellschaft erfasst hat und eben auch das Militär erfasst hat.

    Meurer: Die Gegner von Erdogan und seiner AKP-Partei haben Angst davor, dass hier Islamisten zu viel Macht bekommen. Sie haben wahrscheinlich auch Angst, ihre Privilegien zu verlieren. Wie fallen denn da so in diesen Tagen jetzt die Reaktionen darüber aus, dass das Militär anscheinend als Schutzmacht ausfällt?

    Baumgarten: Na ja, zunächst einmal das Wort Schutzmacht, das gilt es natürlich in dem Zusammenhang wirklich mal zu interpretieren. Die Macht des Militärs sollte ja darin bestehen, das Land zu schützen, und zwar zunächst einmal als Armee vor äußeren Feinden. Und für innere Gegner hat man ja dann die Polizei und eben andere Instrumente wie in einem demokratischen Land üblich. Und was das Militär eben acht Jahrzehnte lang gemacht hat, das war eben auch ein gehöriger Machtmissbrauch. Das ist eben nicht nur so gewesen, dass man nach außen die Kanonen gerichtet hat, sondern eben - wir haben es ja schon gesagt -, eben auch nach innen klar gesagt hat. In der Türkei gibt es diese zwei Lager. Und jetzt sagt natürlich, das kemalistische Lager sagt natürlich, um Gottes Willen, jetzt werden wir doch zu einem wie auch immer gearteten Gottesstaat nach Erdogans Gnaden. Ich halte das für total übertrieben, wenn man sich anguckt, was die Regierung Erdogan in den neun Jahren, die sie jetzt an der Macht ist, geleistet hat. Das Bruttoeinkommen pro Kopf zum Beispiel ist mehr als verdoppelt worden, die Wirtschaft wächst, die Wirtschaft brummt nachgerade. Dann sind diese ganzen Warnrufe, sie kommen meistens aus der Ecke derer, die jetzt einfach an Macht und Einfluss verlieren und eben Macht und Einfluss an die sogenannten Anatolier abgeben müssen.

    Meurer: Danke schön, Reinhard Baumgarten, nach Istanbul!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.