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Umgang mit Migration
Zuwanderung damals und heute

Migration ist mitnichten nur ein Phänomen der Gegenwartsgesellschaft. Zuwanderung hat es auch schon in den vergangenen Jahrhunderten aus verschiedensten Gründen und mit unterschiedlichster Ausprägung gegeben. Mal wurden Migranten willkommen geheißen, mal wurden sie geächtet, verfolgt und an den Rand der Gesellschaft gedrängt.

Von Alfried Schmitz | 12.03.2015
    Kinder von Migranten in einer berufsbildenden Schule, Frankfurt am Main 2009.
    Kinder von Migranten in einer berufsbildenden Schule. (picture alliance / dpa / Frank Rumpenhorst)
    Zwei Wissenschaftler haben sich eingehend mit der Problematik von Migration und multikultureller Gesellschaft beschäftigt. Einer von ihnen ist der Historiker und Politologe Dr. Michael Schubert von der Universität Paderborn. Er möchte herausfinden, wie in der Vergangenheit mit Zuwanderung umgegangen wurde.
    Gefördert wird seine wissenschaftliche Arbeit von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Ende 2016 soll sie abgeschlossen sein und dann in Buchform veröffentlicht werden.

    "Migration wird gesteuert, wird kontrolliert vor dem Hintergrund der Entwicklung von Staatlichkeit. Und in diesem Zusammenhang sieht man, dass schon im 18. Jahrhundert sich so etwas entwickelt, wie ein System der Illegalisierung. Bestimmte Wanderungen werden privilegiert, die wirtschaftlich sinnvoll erscheinen, andere Wanderungen werden abgelehnt, weil sie in wirtschaftlicher Hinsicht dem Staate zur Last fallen."
    Wie die Studie von Michael Schubert zeigt, war die Zuwanderung zum Wohle des Staates von den verschiedenen Landesfürsten also durchaus gerne gesehen. Das zeigt auch ein Beispiel an der Schwelle zum 18. Jahrhundert.
    Als die calvinistisch geprägten Hugenotten um 1685 wegen ihres Glaubens im katholischen Frankreich verfolgt und regelrecht abgeschlachtet wurden, flohen sie zu zigtausenden und fanden in anderen europäischen Staaten eine neue Heimat. Allein 20.000 Hugenotten gingen nach Preußisch-Brandenburg, wo sie von Kurfürst Friedrich Wilhelm mit offenen Armen empfangen wurden. Er gewährte ihnen sogar mit dem Edikt von Potsdam besondere Privilegien. Ganz uneigennützig handelte der Landesfürst damit nicht. Er erhoffte sich von den handwerklich und kaufmännisch begabten Zuwanderern wirtschaftlichen Aufschwung. Und neue Rekruten für seine Armee. In den Jahren 1686 und 1688 wurden zwei Regimenter ausschließlich durch die zugewanderten Glaubensflüchtlinge gebildet.
    Friedrich Wilhelms erfolgreiche Einwanderungspolitik wurde auch von seinen Nachfolgern betrieben. Immerhin stammt das bekannte Zitat, dass jeder nach seiner Fasson glücklich werden solle, von Preußen-König Friedrich II. Für Juden galt seine freizügige Offenheit und Toleranz übrigens nicht. Ihr Zuzug war streng begrenzt und reglementiert. In ihren Bürgerrechten waren sie stark eingeschränkt. Willkommen waren in Preußen nur die wohlhabenden Juden.
    Zuwanderung nur zum Wohle des Staates
    Um den Zuzug besser steuern zu können, setzte sich damals in den Zentralstaaten der Neuzeit eine immer stärker kontrollierte Zu- und Einwanderungspolitik durch, mit der dann auch eine zunehmende gesellschaftliche Ausgrenzung von bestimmten Migranten einherging. Für die Forschungsarbeit von Michael Schubert ist das ein ganz wichtiger Punkt. Er hat herausgefunden, "dass eine bestimmte Form von Wanderung verhindert werden soll. Und das ist maßgeblich die Wanderung der sogenannten Vagabunden, manchmal dann auch Zigeuner genannt. Also da haben wir die Ablehnung bestimmter Wanderungsformen, die dem Staat als hinderlich für seine Entwicklung erscheinen. Antiziganismus, Antisemitismus spielen beispielsweise auch zunehmend eine Rolle. Rassismus im weiteren Sinne. Das heißt also, bestimmte Migranten werden vom Staat abgelehnt aus wirtschaftlichen Gründen, aber dann auch zunehmend wird das Ganze argumentiert vor dem Hintergrund von sich etablierenden Ideologien."
    Michael Schubert hat schon vor einigen Jahren an einem groß angelegten Projekt mit dem Schwerpunkt Migration entscheidend mitgewirkt. Damals war er redaktioneller und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück. Unter der Leitung des Historikers Professor Klaus J. Bade stellte die Gruppe von Wissenschaftlern die "Enzyklopädie Migration in Europa vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart" zusammen und publizierte die Studie im Jahr 2007 auf 1200 Seiten in Buchform.
    Der Historiker Bade brachte darin die Migration auf die Kurzformel:
    "Migration ist der Normalfall der Geschichte, sie ist Grundkonstante der Conditio humana, denn der Homo sapiens hat sich als Homo migrans über die Welt ausgebreitet."
    Migration ist also seit jeher nicht nur ein wichtiger Bestandteil, sondern auch ein Motor für einen permanenten Wandel in der Gesellschaft. Ab- und Zuwanderungen von Menschen aus der einen in die andere Region prägten und veränderten das Leben auf der Erde ganz entscheidend. Seit Beginn der 1990er-Jahre gilt daher das besondere wissenschaftliche Interesse des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien diesen "vielfältigen Aspekten räumlicher Mobilität und interkultureller Begegnung" wie es auf der Internetseite des IMIS heißt. Ein so komplexes Aufgabengebiet kann natürlich nur von Wissenschaftlern aus vielen verschiedenen Fachbereichen bearbeitet werden. Forscher aus Demografie, Ethnologie, Geografie, Soziologie, Psychologie, Rechts- und Religionswissenschaften, um nur einige zu nennen, arbeiten hier Hand in Hand. Für den Historiker und Politologen Dr. Schubert wurde bei der Mitarbeit an der "Enzyklopädie Migration" eines klar:
    "Dass Migration etwas ist, das autonom stattfindet. Das stattfindet, weil Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen ihren Lebensmittelpunkt in ein anderes Land, in eine andere Region verlegen wollen, das können wirtschaftliche Gründe sein, das können soziale Gründe sein, das können politische Gründe sein, wenn wir beispielsweise an Fluchtzusammenhänge denken. Dass aber gleichzeitig Staaten versuchen, mit diesen Migranten umzugehen und sie auf verschiedene Art und Weise einordnen und dass die Zuspitzung der staatlichen Zuordnung das Verbot ist."
    Kundgebung unter dem Motto "Südthüringen bleibt bunt" in Suhl im Februar 2015
    Gegendemonstranten protestieren am 09.02.2015 bei einer Kundgebung unter dem Motto "Südthüringen bleibt bunt" gegen die islamkritische Bewegung der Sügida (picture alliance / dpa / Foto: Martin Schutt)
    Guter Flüchtling, böser Flüchtling
    Die Einordnung in Wirtschaftsflüchtlinge und politische Flüchtlinge hat dazu geführt, dass die Migranten von der Gesellschaft verschieden wahrgenommen und akzeptiert werden. In Stammtischparolen wird gegen die einen gewettert, die nur des Geldes wegen nach Deutschland kommen, Arbeitsplätze wegschnappen und dem Staat auf der Tasche liegen, während die anderen weitgehend toleranter und verständnisvoller in den Gesprächsrunden am Biertresen behandelt werden. Immerhin gehören die politisch Verfolgten einer Gruppe von Menschen an, deren Freiheit, Leben und Gesundheit in ihrer ursprünglichen Heimat bedroht werden, heißt es da oft. Und die könne und müsse man schützen.
    Die gesellschaftliche und politische Einordnung in sogenannte gute und schlechte, willkommene und unerwünschte, legale und illegale Migranten hat Dr. Schubert bei seiner Arbeit besonders interessiert. Bei der Auswertung von historischem Aktenmaterial in Berliner Archiven, das aus den verschiedenen Verwaltungsebenen des preußischen Königreiches im 19. Jahrhundert stammt, ist der Historiker auf ein besonderes Phänomen gestoßen, dass nämlich in vielen Fällen, trotz starker Regulierungsabsichten in Sachen Migration, oft die Willkür entscheidend war. Und letzte Instanz war dabei oft der König selbst, "der dann dabei auch einen gewissen Einfluss hat auf die Frage der Illegalisierung von Migration oder eben der gnädigsten Erlaubnis der Zuwanderung", sagt Schubert. "Diese Willkür findet man nicht nur auf dieser obersten Ebene, sondern diese Willkür findet man gerade auch auf der Ebene der Ortspolizeibehörden. Das sieht man schön, wenn man sich anschaut, wie dann die Direktoren der Ortspolizei Eingaben machen beim Oberpräsidenten und bestimmte Fälle von Zuwanderungszusammenhängen schildern und zu erkennen geben, dass einzelne Polizisten nach eigenem Gusto entschieden haben, jemanden verstärkt zu kontrollieren, jemanden abzuweisen."
    Der Politologe und Historiker Michael Schubert spannt den Bogen bei seiner wissenschaftlichen Arbeit zum Thema Migration von der Neuzeit bis in die Gegenwart, analysiert die Zuwanderung der sogenannten Ruhrpolen, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts ins Ruhrgebiet kamen, um dort, in der Hochphase der frühen Industrialisierung in den Eisenhütten und Bergwerken zu arbeiten, er betrachtet die Flüchtlingsströme im und nach den beiden Weltkriegen und er erforscht natürlich auch den Zuzug der italienischen und türkischen Menschen, die als Gastarbeiter in den 1950er und 1960er-Jahren angeworben wurden, um dem Wirtschaftswunder in Deutschland auf die Sprünge zu helfen. Die Untersuchungen der jüngsten Zuwanderungen runden seine wissenschaftliche Arbeit ab. Migration im Wandel der Zeit, ein spannendes und komplexes Projekt, das erst gegen Ende 2016 abgeschlossen sein wird. Dr. Schubert mit einem Zwischenbericht seiner Forschungsarbeit:
    "Wir lernen, dass Migration stattfindet, dass Staaten sich, ganz pointiert gesagt, noch so sehr bemühen können, Wanderungen zu verhindern. Es ist ja im Übrigen auch so, dass Migranten nicht maßgeblich danach entscheiden zu wandern, wie es Staaten dann verhandeln, sondern sie treffen ihre Entscheidung aufgrund von individuellen, familiären und Netzwerkzusammenhängen, in denen Informationen ausgetauscht werden, welche Chancen eigentlich bestehen, bei der Zuwanderung. Es sind ja immer auch Pionierwanderer, die sozusagen immer schon da sind und aufgrund dieser Informationen werden dann wiederum Wanderungsentscheidungen getroffen. Und wie nun das Rechtliche in den einzelnen Staaten aussieht, das ist dann vielleicht eher nebensächlich."
    Straße in London, geschmückt mit britischen Fahnen 
    Straßenzug in London (dpa / Marco Hadem)
    Großbritannien: Von der Kolonialmacht zur multikulturellen Gesellschaft
    Universität Bochum. Englisches Seminar. Hier arbeitet der Anglist und Politologe Dr. Sebastian Berg. Er beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den Chancen und den Problemen, die eine multikulturelle Gesellschaft mit sich bringt. Als ehemalige Kolonialmacht ist Großbritannien ein Land mit langer Migrationsgeschichte. Die Bevölkerung dort ist von einer starken ethnischen Durchmischung geprägt. Berg hat viele Forschungsreisen in britische Großstädte unternommen, hat die politischen Debatten verfolgt, den staatlichen Umgang mit Migranten untersucht, aber auch viele Menschen auf der Straße befragt und deren Aussagen analysiert. Natürlich hat er auch intensiv verfolgt, wie sich die Medien zum Thema Migration und multikulturelle Gesellschaft äußern. All diese Informationen haben ihn zu einem ausgewiesenen Fachmann gemacht, dessen Meinung auch für die deutsche Migrationspolitik von enormer Wichtigkeit ist. Einen wahren Paradigmenwechsel auf die öffentliche Meinung über die multikulturelle Gesellschaft hat der terroristische Anschlag auf das New Yorker World Trade Center im Jahr 2001 ausgelöst:
    "Vor 9/11 gab es eine kurze Phase, wo auch die neue Labour-Regierung, die erste Tony Blair-Regierung, sich offiziell multikultureller Politik verschrieben hatte. Einer wissenschaftlich gesprochen, moderaten Version von Multikulturalismus. Und nach 9/11 gab es dann aber eine neue Phase, die ich als postmultikulturell bezeichnen würde, wo viele Leute, die vorher Multikulturalismus vertreten haben, sich davon wieder abgewendet und gesagt haben, wir waren eigentlich ein bisschen naiv."
    Nach einer kurzen Zeit der Entspannung haben die militärischen und terroristischen Aktionen des sogenannten Islamischen Staates erneut die öffentliche Meinung über ein multikulturelles Miteinander beeinträchtigt. Sebastian Berg sieht Anzeichen dafür nicht nur in der britischen Gesellschaft:
    "Es gibt sicherlich Parallelen zu Deutschland. Ich glaube, die Problematisierung von neuer Migration ist mit Sicherheit eine Parallele zu Deutschland und auch die Identifizierung der Muslime als potenziell problematische Minderheitengruppe, das ist mit Sicherheit auch ein Parallele."
    Etwa 200 Anhaenger des Berliner Ablegers rechten Pegida-Bewegung, Baergida, versammelten sich am Montag den 5. Januar 2015 in Berlin zu einer Demonstration gegen eine angebliche Islamisierung Deutschlands und dagegen, dass in 30 Jahren in Deutschland die Sharia herrscht , so der Organisator Karl Schmitt. Bis zu 5.000 Menschen protestierten gegen den rechten Ausmarsch und blockierten bei Regen die Marschroute mehrere Stunden. Die Polizei schaffte es nicht mit koerperlicher Gewalt die Blockade zu beenden, so dass die Rechten nach drei Stunden nach Hause gehen mussten. Die Baergida-Anhaenger feierten dies aber dennoch als Sieg. 
    Etwa 200 Anhaenger des Berliner Ablegers rechten Pegida-Bewegung, Baergida, versammelten sich am Montag den 5. Januar 2015 in Berlin zu einer Demonstration gegen eine angebliche Islamisierung Deutschlands. (imago/Christian Ditsch)
    "Wohlstands-Chauvinismus" als Abwehrbewegung
    Das, was heute von vielen vor dem Hintergrund des islamistischen Terrors als Bedrohung angesehen wird, der Zuzug von Menschen aus fremden Kulturkreisen, war lange Zeit als Chance und Bereicherung für die moderne Gesellschaft gepriesen worden. Mit gegenseitiger Offenheit, Toleranz und Akzeptanz und beidseitigem Willen für Integration, wäre die multikulturelle Gesellschaft ein Idealzustand menschlichen Zusammenlebens. Und vor dem Hintergrund des demografischen Wandels in Deutschland und dem damit verbundenen Problem fehlender Arbeitskräfte, begrüßt auch die deutsche Wirtschaft den Zuzug von jungen Arbeitskräften.
    Dennoch kommt es gerade in diesem Zusammenhang zu großer Verunsicherung innerhalb der Bevölkerung. Migration wird als Gefahr für den eigenen Wohlstand betrachtet. Ein anerkannter Politologie-Professor prägte in diesem Zusammenhang den Begriff vom "Wohlstands-Chauvinismus":
    "Der Begriff stammt von Christoph Butterwegge aus Köln und der meint die Verteidigung des eigenen Wohlstandes gegen Menschen von außen, die als Bedrohung dieses Wohlstands wahrgenommen werden einfach dadurch, dass sie an diesem Wohlstand zu einem gewissen Grad teilhaben wollen."
    Sebastian Berg sieht die Wissenschaft in der Pflicht, Aufklärungsarbeit zu leisten, um mit objektiver Information Schranken und Vorurteile zu beseitigen. Vor allem hält der Politologe die Unterscheidung in Wirtschaftsflüchtlinge und politische Flüchtlinge für kontraproduktiv, denn die Grenze zwischen diesen beiden Kategorien sei fließend und sorge für Ungerechtigkeiten im Umgang mit den Migranten. Doch noch ein Aspekt sei für ihn äußerst wichtig:
    "Der kanadische politische Philosoph Will Kymlicka, der viel über Multikulturalismus nachgedacht hat, sagt, dass Multikulturalismus, wenn er dann funktionieren soll, ein gewisses Maß an Gleichheit in Gesellschaft braucht, an materieller Gleichheit. Und ich denke, das ist auch eine ganz wichtige Diskussion, die wir auch als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler führen müssen, wie eigentlich der Wohlstandin einer Gesellschaft verteilt werden soll und wie auch der globale Wohlstand verteilt werden soll."