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Umweltchemie
Der Abrieb von Reifen gefährdet Kleinstlebewesen

Wenn Autos zügig anfahren oder eine Vollbremsung hinlegen, bleibt immer ein wenig Material von den Reifen auf dem Asphalt zurück. Ein großer Teil dieses Reifenabriebs verbleibt schließlich in der Umwelt. Welche Folgen das für die Organismen haben kann, die dort leben, ist noch weitgehend unbekannt.

Von Hellmuth Nordwig | 05.05.2020
Ein Auto mit qualmenden Reifen auf einer Straße.
Wenn die Reifen qualmen, gelangt giftiger Abrieb in die Umwelt (imago stock&people)
Über den Abrieb von Reifen gibt es bis jetzt nur spärliche Daten. Das fängt schon bei der Analyse an. Wissenschaftler vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig haben sich deshalb an die Straßenreinigung und die Autobahnmeisterei gewandt. Die städtischen Behörden haben Kehricht zur Verfügung gestellt, außerdem Material, das bei Regen in Absetzbecken neben den Straßen gesammelt wird. Dort hofften die Forschenden winzige Teilchen von Reifen zu finden. Von denen fällt in Deutschland eine große Menge an, berichtet Thorsten Reemtsma vom Helmholtz-Zentrum.
"Die umfasst etwa 100- bis 130.000 Tonnen pro Jahr. Das ist also eine gewaltige Menge. Letztlich wissen wir nicht genau, ob davon 50 Prozent, 70 oder 80 Prozent durch die Maßnahmen, die man heute durchführt, eingesammelt werden."
Etwa durch das Kehren von Straßen, was den Wissenschaftlern authentisches Material lieferte. Ein Ergebnis: Reifenpartikel machen im Straßenstaub oder Regenablauf im Extremfall die Hälfte der Menge aus. Das ist brisant, denn diese Teilchen enthalten jede Menge Chemikalien. Etwa Schwermetalle.
Schwermetalle und Zusatzstoffe
"Reifen besteht ja zum überwiegenden Teil zwar aus dem Gummi, also dem Kautschukmaterial, und aus sogenannten Füllstoffen, das ist meistens Kieselgel, SiO2. Aber eben auch aus vielen Zusatzstoffen: Vulkanisationsmittel, Vulkanisationsbeschleuniger; Mittel, die die Lebensdauer des Reifens verlängern sollen; Weichmacher, die den Reifen geschmeidig machen. Also eine ganze Menge unterschiedlicher Stoffe. Man geht davon aus, dass das etwa zehn Prozent der Gesamtmenge des Reifens sind."
Wie diese Stoffe sich auf Lebewesen auswirken, ist bisher kaum erforscht. Ein neues Ergebnis stammt von Louise Lynn Halle von der Universität Roskilde in Dänemark. Sie hat einen wenige Millimeter großen Flohkrebs untersucht. Von ihm ernähren sich viele Wasservögel, er ist also wichtig in der Nahrungskette. Und für die Forschung sind die Tiere einfach praktisch.
"Weil sie teilweise durchsichtig sind. So können wir in den Darm schauen. Wir haben zunächst untersucht, ob die Tiere die Teilchen fressen. Das war der Fall. Wir konnten beobachten, wie sich Magen und Darm der Krebse gefüllt haben. Sie können die Reifenteilchen aber wieder ausscheiden, die bleiben also nicht unbedingt drin."
Das Alter des Reifens spielt eine wichtige Rolle
Einige hundert Teilchen können einen Flohkrebs aber trotzdem töten. Das sind Laborexperimente - es ist bisher nicht klar, ob die winzigen Tiere auch in der Natur so viel aufnehmen. Aber die Umweltbiologin hat auch den Effekt der Chemikalien auf die Flohkrebse im Aquarium ihres Instituts untersucht. Dazu hat sie Reifenteilchen ausgelaugt und die entstehende Lösung dem Wasser zugesetzt. Dabei hat sich gezeigt, dass das Alter der Reifen eine wichtige Rolle spielt: Der Abrieb eines fabrikneuen Reifens beeinträchtigt das Wachstum der Flohkrebse wesentlich stärker und war auch häufiger tödlich als bei Reifen, die schon viele Kilometer hinter sich hatten.
"Wir haben uns 19 organische Stoffe und neun Metalle angesehen. Dabei haben wir gefunden, dass die Verbindung 1-Octanthiol vor allem in Teilchen aus neuen Reifen vorkommt, und auch Kupfer. Wir nehmen also an, dass diese beiden sehr wahrscheinlich dazu beitragen, dass der Abrieb von neuen Reifen schädlicher für die Tiere ist, was wir ja beobachten."
Muscheln reichern Schadstoffe aus den Reifen an
1-Octanthiol ist bei der Vulkanisation von Reifen ein Hilfsmittel, das als gewässerschädigend eingestuft ist. Wie viel von den Chemikalien in der Natur frei wird, dazu gibt es noch keine Studien. Aber eine Untersuchung aus Finnland, die ebenfalls auf dem Kongress vorgestellt wird, liefert einen Hinweis: Muscheln aus der Ostsee reichern Schwermetalle und organische Stoffe aus Reifen an, Biomarker deuten auf erhöhten Stress hin. Und zwar wenn die Muscheln von einer Menge an Reifenteilchen umgeben sind, die am Grund der Ostsee tatsächlich zu finden ist. Es dürfte sich also lohnen, diese kaum untersuchte Auswirkung des Autofahrens auf Lebewesen genauer unter die Lupe zu nehmen.