Dienstag, 16. April 2024

Archiv

UN-Flüchtlingshilfe im Nahen Osten
"Ab Januar droht die Hilfe wieder zusammenzubrechen"

Die Situation der Flüchtlinge im Nahen Osten sei die größte humanitäre Krise seit dem Zweiten Weltkrieg, sagte Ralf Südhoff, Leiter des UN-World-Food-Programms für Deutschland und Österreich, im DLF. Schon jetzt reichten die zugesagten Mittel nicht, um den Flüchtlingen im Libanon ein Überleben zu sichern - ab Januar gebe es praktisch keine Mittel mehr.

Ralf Südhoff im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 24.10.2015
    Zu sehen sind drei Kinder in einem Flüchtlingslager bei Baalbek im Libanon, die Luft ist wegen eines Sandsturms gelb.
    Kinder in einem Lager im Libanon. (AFP)
    Jürgen Zurheide: Das Welternährungsprogramm der UN kümmert sich in mehr als 75 Ländern dieser Welt um insgesamt 100 Millionen Menschen. Das ist eine Menge. Da sind allerdings einige Länder zugekommen, vor allen Dingen im Nahen Osten. Und die Lade dort, wir müssen ja ständig darüber berichten, wird immer, immer schwieriger, vor allen Dingen für die Menschen. Wir wollen jetzt mit dem Leiter des UN-World-Food-Programmes für Deutschland und Österreichs, mit Ralf Südhoff über die Lage reden.
    - Zunächst einmal guten Morgen, Herr Südhoff!
    Ralf Südhoff: Guten Morgen!
    Zurheide: Zunächst einmal, wenn wir zunächst in den Nahen Osten gehen – neuer Brennpunkt traue ich mich kaum zu sagen, weil Sie auch da schon länger unterwegs sind. Allerdings jetzt ein Brennpunkt, um den Sie sich ganz besonders kümmern müssen?
    Südhoff: Der Nahe Osten ist seit zwei, drei Jahren die größte humanitäre Krise, um die wir uns überhaupt kümmern müssen. Es gab noch nie eine Krise, in der so viel Hilfe auf einmal geleistet werden musste seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Syrienkrise stellt uns alle vor ganz neue Herausforderungen. Und das merken wir eben auch daran, dass wir den Menschen vielfach kaum noch helfen können, weil wir einfach keine Mittel mehr dafür haben.
    Zurheide: Es gibt ja möglicherweise – das ist jetzt eher eine Frage – zwei Problemkreise: Das erste sind Menschen auf der Flucht, wie man ihnen da helfen kann. Und zweitens, wenn sie dann in irgendwelchen Lagern stranden, anders kann man das wohl nicht bezeichnen. Was ist für Sie die größere Herausforderung oder ist es beides?
    Südhoff: Nun, es gibt in der Tat zwei große Herausforderungen: Die eine ist, vor allem den Menschen in Syrien zu helfen. Wir unterschätzen ja vielfach, dass in Syrien selbst bis zu zehn Millionen Menschen auf der Flucht sind und massiv Hilfe benötigen. Und dort erreichen wir fast die Hälfte von diesen Menschen, allein wir vom World-Food-Programm, mit Nahrungsmittelhilfe. Das ist aber natürlich mitten in einem Konflikt, in Kriegen, eine riesige Herausforderung mit großen Sicherheitsrisiken für unsere Mitarbeiter. Vielen Checkpoints, belagerten Städten, aber vier Millionen Menschen kann geholfen werden. Die zweite Herausforderung ganz anderer Art sind in der Tat die Flüchtlingslager rund um Syrien, die Staaten, die eine enorme Zahl von Flüchtlingen aufgenommen haben. Sie müssen sich vorstellen, allein im Libanon kommen auf vier Millionen Einwohner mittlerweile rund eine Million Flüchtlinge. Das ist wie wenn wir 20 Millionen Syrer in Deutschland aufgenommen hätten. Und diesen Ländern zu helfen und den Flüchtlingen dort ein Auskommen zu bieten, das ist die entscheidende Herausforderung, auch damit sie überhaupt eine Chance haben, dort zu bleiben.
    Zurheide: Und das Ganze vor dem Hintergrund verschiedener Hilfszusagen, die in der Vergangenheit immer mal wieder gegeben worden sind, die dann aber, wie wir gerade in diesen Tagen gelernt haben, nicht eingehalten werden. Wenn ich Sie das mal ganz persönlich fragen darf als jemand, der nun sich hier professionell um dieses Problem kümmert – was empfindet man da eigentlich? Zusagen auf dem Papier hatten Sie ja eigentlich immer, aber dann kommt das Geld nicht.
    Südhoff: Nun, das ist ein bisschen so wie wenn Sie jetzt nach diesem Gespräch sagen würden, jetzt spende ich sofort für Syrien und dann würde ich mich freuen. Aber ob Sie es wirklich tun, bleibt natürlich Ihnen überlassen. Auf diesen Konferenzen, wo versucht wird, eine Planbarkeit der Hilfe herzustellen, damit diese Hilfe auch wirklich ankommt, effizient ist und so weiter, gibt es diese Zusagen, aber die sind ja nicht juristisch bindend. Das sind einfach Versprechen, die man halten kann oder nicht. Und vielfach werden sie auch bewusst so gegeben, dass man gar nicht überprüfen kann, ob sie gehalten wurden. Denn es wird ja beispielsweise nicht konkret gesagt, wir geben die Summe X an das World-Food-Programm der UNO, sondern wir unterstützen die Menschen in der Region mit zum Beispiel 50 Millionen Dollar. Ob diese Hilfe dann aber angeblich über ganz andere Partner, über die Regierungen vor Ort geleistet wurden oder nicht, das ist dann ganz häufig intransparent und bei manchen Staaten sicherlich auch genau bewusst so gehalten.
    Zurheide: Geben Sie das noch mal konkret. Ich habe kürzlich solche Zahlen gehört, will sie aber hier nicht wiedergeben –, also wie viel respektive wie wenig haben Sie denn pro Mensch zur Verfügung, zum Beispiel für Nahrungsmittelhilfe? Ich hörte irgendwas von 27 Dollar oder Euro und da kommt aber maximal die Hälfte an. Sind das so Größenordnungen, die realistisch sind?
    Südhoff: In der Tat haben wir die große Herausforderung, und das ist auch sehr interessant vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise, dass wir seit Anfang diesen Jahres, seit Januar schon, den allermeisten Menschen vor Ort nur 50 Prozent der Hilfe geben können, die sie brauchen, um satt zu werden, um ihre Kinder ernähren zu können, um nicht krank zu werden, einfach weil sie zu wenig zu essen haben. Das bedeutet, dass beispielsweise im Libanon oder in Jordanien die Menschen, die wir gar nicht mit Nahrungsmittelhilfe versorgen müssen, sondern mit einer Geldkarte, mit der sie in Märkten dort einkaufen können – das funktioniert dort sehr gut, die Märkte –, dass sie auf diesen Geldkarten, wir normalerweise diesen Menschen dafür mindestens 27 Dollar pro Erwachsenen pro Monat geben müssten. Dafür haben wir aber schon seit Monaten kein Geld mehr. Und deswegen ist diese Hilfe um rund die Hälfte gekürzt, also die meisten hatten nur noch gut 13 Dollar und davon kann kein Mensch leben, auch nicht in diesen Ländern. Und die Folge ist tatsächlich, Monate später, dass viele Menschen sich denken – das ergeben auch Befragungen von uns von den Flüchtlingen in Europa –, wenn ich die Hilfe aus Europa kaum noch bekomme, dann muss ich weiterfliehen, was soll ich sonst tun, dann muss ich nach Europa fliehen.
    Zurheide: Es ist so naheliegend, was Sie sagen. Ich zögere überhaupt, da weiter zu fragen, aber in der Tat, jetzt scheint dieses Signal angekommen zu sein – die Kanzlerin, endlich möchte man sagen, redet auch davon, dass wir mehr in den Ursprungsländern helfen müssen, nachdem die Situation sich hier zugespitzt hat. Welche Hoffnungen haben Sie, dass da auch wirklich was passiert und dass es nicht wieder nur Absichtserklärungen sind?
    Südhoff: Da bin ich hoffnungsvoller als noch vor einigen Monaten, was die Zusagen aller Staaten und auch privater Spender übrigens anbelangt. Wir haben praktisch nie private Spenden für den Syrienkonflikt und die Flüchtlinge bekommen, weil die Menschen für so Konflikte ungern spenden. Das ändert sich ein bisschen. Und vor allem ändert es sich bei Regierungen, in der Tat ist es so, dass wir gerade von Deutschland in den letzten Wochen und Monaten neue Hilfen zugesagt bekommen haben. Es stehen weitere in Aussicht, die ich noch nicht ankündigen kann. Da hat sich etwas getan, was uns jetzt auch ermöglicht, zumindest für die nächsten Wochen bis Weihnachten den Menschen wieder etwas mehr Hilfe vor Ort zu geben. Wir können immer noch nicht den Menschen das geben, was sie brauchen. Es ist immer noch keine Trendwende, die den Menschen versichern würde, ich kann jetzt doch dauerhaft hier bleiben, denn wir können hier wenigstens überleben, ohne dass wir nie mehr zum Arzt gehen können, ohne dass die Menschen in die Prostitution fliehen, ohne dass sie klauen müssen. Das ist das, was droht in den Ländern und vielfach schon passiert. Die Hilfen sind jetzt höher, das ist natürlich eine Verbesserung, aber es reicht noch lange nicht. Und vor allem ab Januar, ab Ende diesen Jahres, auch das Ende des Budgetjahres vieler Regierungen, haben wir erneut praktisch keine Mittel im Moment, und droht, die Hilfe wieder zusammenzubrechen.
    Zurheide: Danke schön, das war Ralf Südhoff vom UN-World-Food-Programm. Das Interview haben wir kurz vor der Sendung aufgezeichnet
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.