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UN: Lebensmittelproduktion in Syrien stark beeinträchtigt

Zerstörte Infrastruktur, hohe Treibstoffpreise und mehr als vier Millionen Menschen auf der Flucht: Die Versorgungslage in Syrien habe sich in den letzten Monaten drastisch verschlechtert, beklagt der Deutschland-Chef des Welternährungsprogramms (WFP), Ralf Südhoff. Die Menschen vor Ort seien kaum noch in der Lage, sich selbst zu versorgen.

Ralf Südhoff im Gespräch mit Peter Kapern | 10.07.2013
    Peter Kapern: Alles schaut auf Ägypten. Die Kämpfe in Syrien hingegen sind in den letzten Wochen fast vollständig aus den Schlagzeilen geraten – und das, obwohl der Bürgerkrieg dort unvermindert anhält. Diktator Baschar al-Assad hat die Spitze seiner Baath-Partei gerade von den letzten vorsichtigen Kritikern säubern lassen und seine Soldaten versuchen, den Aufständischen die Kontrolle über die Stadt Homs zu entreißen. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon rief die Konfliktparteien gestern ein weiteres Mal zu einer Waffenruhe auf und ein weiteres Mal wird dieser Appell wohl ungehört verklingen. Unterdessen wird die Versorgungslage für die im Land verbliebenen Menschen immer dramatischer. – Bei uns am Telefon ist Ralf Südhoff, der Deutschland-Chef des UN-Hilfswerks World Food Programme. Guten Morgen, Herr Südhoff.

    Ralf Südhoff: Guten Morgen!

    Kapern: Es gibt ja Länder, in denen, so glaubt man, kann es den Menschen nicht noch schlechter gehen, als es derzeit schon der Fall ist. In Syrien scheint, das nicht zu gelten. Ihre Organisation macht darauf aufmerksam, dass sich dort zusätzlich zum Bürgerkrieg nun noch eine Hungerkatastrophe anbahnen könnte. Wie ist die Situation?

    Südhoff: Die Situation hat sich vor Ort in der Tat in den letzten Monaten noch einmal dramatisch zugespitzt. Wir konnten eine Mission durchführen in den letzten Wochen, die eingeschätzt hat, wie ist die Produktion vor Ort eigentlich, wie können sich die Bauern, die im Land noch sind, die ihre Felder noch bestellen können, selbst versorgen und auch ihre Dörfer und Gemeinden, und mussten dabei feststellen, dass in der Tat sich die Lage jetzt durch diese so lang anhaltende Krise auch im Lande und auch bei der eigenen Nahrungsmittelversorgung dramatisch noch mal zugespitzt hat. Wir müssen davon ausgehen, dass allein die diesjährige Ernte mit rund 40 Prozent weniger Weizen als im Normalfall dramatisch schlechter ausfällt. Es gibt rund 50 Prozent weniger Geflügel im Land, sehr viel weniger Schafe und Rinder. Landmaschinen sind zerstört und die Ernte, die auf den Feldern steht, kann vielfach dann auch nicht eingefahren werden wegen des Konflikts, während der immer wieder ausbrechenden Gewalt.

    Kapern: Allgemein gilt ja, Herr Südhoff, der Bürgerkrieg ist die Ursache dieser katastrophalen Entwicklung. Doch wie genau wirkt der sich auf die Versorgung mit Nahrungsmitteln aus, auf die Produktion von Nahrungsmitteln und die Verarbeitung von Nahrungsmitteln?

    Südhoff: Die Auswirkungen sind in der Tat drastisch. Zum einen haben wir allein 2,5 Millionen Menschen, die in Syrien selbst auf der Flucht sind, die vertrieben sind, die ihre Felder verlassen mussten, die auch in die Städte geflohen sind, um zum einen der Gewalt in ihren Heimatregionen zu entfliehen, zum anderen, weil sie wenig Hoffnung haben, dass sie überhaupt ihre Ernte je einfahren können, dass sie genug Zeit haben, ihre Felder zu bestellen, und das wirkt sich dann mittelfristig – und der Konflikt dauert ja mittlerweile schon über zweieinhalb Jahre – auch dramatisch auf diese Produktion aus und wird sich noch dramatisch verschlimmern, wenn sich nicht sehr schnell etwas tut.

    Wir haben also zum einen sehr, sehr viele Menschen auf der Flucht, wenn Sie die Flüchtlinge im Ausland hinzunehmen über vier Millionen Menschen, also jeder fünfte Syrer ist nicht mehr dort, wo er eigentlich lebt und sein Feld normalerweise bestellen würde. Zum anderen haben Sie zerstörte Fabriken. Von vier Hefefabriken, die in Syrien früher produziert haben, sind drei zerstört. Sie haben Bäckereien, die nicht mehr arbeiten können, weil es praktisch kein Weizenmehl im Lande gibt, weshalb wir nun begonnen haben, Weizenmehl an die Menschen auszuteilen, damit sie sich wenigstens selbst zumindest Brot backen können und überhaupt etwas zu essen haben.

    Sie haben also sehr, sehr viel zerstörte Infrastruktur, Sie haben sehr hohe Preise auch für Treibstoff und all das unterminiert natürlich eine landwirtschaftliche Produktion rein auch schon wirtschaftlich betrachtet.

    Kapern: Wenn denn nun der Krieg die Ursache für diese katastrophale Entwicklung ist, dann kann man doch eigentlich gar nicht helfen, oder da hilft doch nur ein Waffenstillstand.

    Südhoff: Der Waffenstillstand wäre natürlich das allerwichtigste auch in dieser Hinsicht, natürlich vor allem auch für die Lage der Menschen vor Ort in dieser schrecklichen Katastrophe, die so lange schon anhält. Es wäre natürlich auch die wichtigste Voraussetzung dafür, dass die Menschen sich wieder selbst ernähren können, dass wieder Brot zu kaufen ist in den Bäckereien, dass wieder überhaupt sich der Reispreis normalisiert, der hat sich verdoppelt vielfach. Aber man kann natürlich den Menschen auch in dieser Zeit helfen, zum einen in den Regionen, wo die Bauern noch auf ihren Feldern sind und die Lage halbwegs friedlich ist. Diese Regionen gibt es natürlich auch. Da ist das ganz entscheidende Zeitfenster, dass diese Bauern nun keine Chance haben, an Dünger, an Samen zu kommen, um in diesem Herbst neu auszusäen, und wenn sie das nicht können, dann wird sich die Lage dramatisch verschlimmern, weil dann selbst diese Ernte, die ja noch vorhanden ist zum Teil, schon im nächsten Jahr auch noch wegbrechen wird. Zum anderen haben Sie natürlich auch die besagten rund zweieinhalb Menschen, die auf der Flucht sind, und Millionen von Stadtbewohner, die keine Bauern sind, aber massiv darunter leiden, dass sich der Weizenpreis verdoppelt hat, dass es kaum noch Brot zu kaufen gibt. Hier ist natürlich die Ernährungshilfe ganz, ganz entscheidend. Und was vielfach unterschätzt wird: Es ist auch möglich, in weiten Teilen des Landes, wo nicht gekämpft wird aktuell, sowohl in Regierungs- wie in Oppositionsgebieten, diese Menschen zu erreichen. Allein wir vom World Food Programme der UNO unterstützen zurzeit zweieinhalb Millionen Menschen in Syrien selbst, trotz dieser schwierigen Lage, und diese Menschen können nicht überleben, wenn sie diese Hilfe nicht erreicht und sie nicht auch ermöglicht wird durch Gelder und Spenden, die für so eine Krise natürlich viel schwieriger einzuwerben sind. Das geht leider allen Hilfsorganisationen so.

    Kapern: Damit sind wir beim Thema Geld. Ihre Organisation hilft, sie will noch mehr helfen, ihr fehlt das Geld. Warum?

    Südhoff: Zum einen haben Sie tatsächlich das Problem, dass in solchen Konflikten private Spender zurückhaltender sind, weil sie die Lage für unüberschaubar halten, weil der arabische Raum keine Touristenregion ist und so weiter. Gleichzeitig können wir aber vermitteln, dass man tatsächlich die Menschen in allen Gebieten, die nicht umkämpft sind, erreicht. Die Hilfe ist aber zugleich natürlich in der Tat sehr, sehr teuer, wenn Sie sich einfach die Dimensionen anschauen. Es ist dies die größte Krise, mit der wir zurzeit zu kämpfen haben.

    Wir müssen auf der einen Seite rund 100 Millionen Hungernde weltweit unterstützen, aber die Krise in Syrien ist die größte Herausforderung für uns. Diese vier Millionen Menschen auf der Flucht, insgesamt in Syrien, die allein wir unterstützen müssen, das kostet unweigerlich rund 20 Millionen Euro die Woche, und dann setzen Sie nur fünf Euro pro Person ein, pro Kind, pro Vater, pro Mutter, die vor allem auch in die Flüchtlingslager geflohen sind. Das heißt, wenn Sie diese vier Millionen Menschen unterstützen müssen, brauchen Sie unweigerlich sehr, sehr große Mengen und diese Menschen brauchen aber vor allem unweigerlich unsere Hilfe in dieser schrecklichen Situation.

    Kapern: Ralf Südhoff, der Deutschland-Chef des UN-Hilfswerks World Food Programme, heute Morgen im Deutschlandfunk. Herr Südhoff, danke für die Informationen, danke für das Gespräch.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.