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Unbeschnittene Debattenkultur

Natürlich ist die ganze Debatte unter der Gürtellinie, und das macht sie zunächst auf eine primitive Weise interessant. Es geht schließlich um Geschlechtsteile, und zwar gerade nicht in Bezug auf deren Fortpflanzungsfunktion, sondern just auf die Lust, das Lustempfinden und Lust-Bereiten. Dass daraus ein so großes, geradezu gesamtgesellschaftliches Thema werden kann, ist immerhin bemerkenswert und zieht sofort die Frage nach sich: Warum erst und ausgerechnet jetzt? Denn die Sache selbst ist mehrere 1000 Jahre alt, und Einwände dagegen gibt es auch nicht erst seit gestern.

Von Burkhard Müller-Ullrich |
    Es gibt aber einen Treibstoff, der gegenwärtig besonders brisant wirkt, und zwar die Religion. Nach einem halben oder ganzen Jahrhundert der für beinahe selbstverständlich gehaltenen Ausbreitung und Steigerung eines allgemeinen Säkularismus, erleben wir die weltweite Gültigkeit von André Malraux‘ berühmter Prophezeiung, das 21. Jahrhundert werde religiös sein oder es werde gar nicht sein. Die heftigsten Auseinandersetzungen heute finden nicht mehr zwischen den einzelnen, früher zuweilen extrem verfeindeten Religionen und Konfessionen statt, sondern zwischen Gläubigen und Atheisten. Religiös unmusikalisch zu sein, wie es Jürgen Habermas scherzhaft von sich sagte, ist keine Formulierung mehr, mit der man beifälliges Gekicher erntet, sondern eine Haltung, mit der man zeigt, dass man eine wesentliche Welttatsache, nämlich das religiöse Faktum, nicht versteht.

    Man muss es aber begreifen, wenn man den virulenten Zeitgeistfaktor in der deutschen Beschneidungskontroverse analysieren will. Es geht nicht nur um das Kindeswohl, das vermeintlich an der Vorhaut hängt, sondern auch um einen unter der Flagge der Aufklärung geführten Kulturkampf. Daher besteht die Munition aus Vokabeln wie "Folter", "finster" und "mittelalterlich", beziehungsweise "heuchlerisch", "besessen" und "antisemitisch". Letzteres ist ein Argument, das sicher auf manche Äußerung zutrifft, mit dem sich aber der Gegenstand der Debatte keineswegs erledigt.

    Genau dieses Problem aber bildet vielleicht den wichtigsten und mächtigsten Überbau des aktuellen Diskurses: die soziale Zulässigkeit von Wahrheiten. Dieser Aspekt beherrscht unser gesamtes Denken und Sprechen in einem kaum zu überschauenden Maß. Das Drama der "Political Correctness" zeugt davon, die Medien sind davon geprägt und öffentliche Auseinandersetzungen sowieso. Dementsprechend neigen auch die Wortführer der Vorhautdebatte dazu, Sachargumente sozial zu inkriminieren – und zugleich gebetsmühlenartig Sachlichkeit einzufordern.

    Trotzdem – und das ist nicht zuletzt den neuen Wegen der Informationsverbreitung, kurz: dem Internet zu verdanken – kam im Hinblick auf die Vorhaut und ihre Entfernung eine reiche Menge von Tatsachen und Details aufs Tapet, sodass man sich inzwischen durchaus klüger fühlen darf. Wer hat schon all die medizinischen, religiösen, kulturhistorischen und sozialpsychologischen Facetten gekannt, die für viele Menschen offenbar von lebensbestimmender Wichtigkeit sind? Die Struktur dieses Streits ist aber durch eine fast vollständige Balance der Überzeugungskräfte gekennzeichnet. Man könnte darin geradezu einen Glücksfall philosophischen Diskutierens sehen, wenn weder auf den ersten noch auf den zweiten oder dritten Blick evident wird, was eigentlich richtig und was falsch ist.

    Es ist ja nicht einmal klar, was die Beschneidung den Juden und Muslimen bedeutet. Gewiss, das Religionsgesetz, die Familienfeier, der Bund mit Gott, die Aufnahme in sein Volk, das Setzen eines unvergänglichen Körperzeichens. Aber warum die Vorhaut? Selbst Juden finden es mitunter rätselhaft, lachhaft oder grauenhaft, einem Baby an seinem winzigen Sexualorgan herumzuschneiden. Doch während die bloße Vorstellung solchen Geschehens bei Nichtjuden beinahe automatisch einen Abscheu-Reflex hervorruft, ist das Empfinden ein ganz anderes, wenn man durch Tradition daran gewöhnt ist. Nun ist das Empfinden zum Politikum geworden – eine nicht ungefährliche Entwicklung. Aber man kann versuchen, Empfindungen zu Mitteilungen zu machen; in der Beschneidungsdebatte ist das immerhin zu einem guten Teil gelungen.