Jochen Spengler: In diesen Tagen erinnern wir in vielfacher Hinsicht an die Ereignisse vor 20 Jahren, an 1989, als die Mauer fiel und als nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa der Eiserne Vorhang zerrissen wurde. Ereignisse, die viele Väter und Mütter kennen, die polnische Solidarnosc etwa, die DDR-Bürgerrechtler, Gorbatschow und nicht zuletzt die Ungarn, die in jenem Jahr die Kommunistische Einheitspartei Ungarns auflösten, das Mehrparteiensystem einführten, die aber vor allem die Grenzanlagen demontierten und den nach Ungarn geflohenen DDR-Bürgern die Ausreise erlaubten. - Am Deutschlandfunk-Telefon begrüße ich nun den ungarischen Außenminister Peter Balázs. Guten Morgen, Herr Balázs.
Peter Balázs: Guten Morgen.
Spengler: Herr Balázs, wie wichtig waren rückblickend betrachtet die Ereignisse in Ungarn für den Zusammenbruch des Ostblocks und für die Einheit Europas?
Balázs: Sehr wichtig. Das war eine gemeinsame Geschichte von Europa, aber hauptsächlich von Deutschland und Ungarn, teilweise auch Prag war dabei. Parallel mit diesen Ereignissen hat man in Ungarn die berühmten Rundtafel-Gespräch über die politische Wende begonnen. In den letzten Monaten des Jahres 1989 haben die damalige Macht, die Einparteistruktur, und die kaum strukturierte Opposition friedliche Verhandlungen im Parlamentsgebäude in Budapest geführt über die Übergabe der Macht.
Spengler: Auf welcher Seite standen Sie eigentlich damals? Sie waren ja im ungarischen Außenhandelsministerium. Haben Sie sich als Teil des Systems gefühlt oder als Oppositioneller?
Balázs: Ich war kein Oppositioneller. Ich war ein Experte für Außenbeziehungen, meistens für die EU und wirtschaftliche Organisationen. Politisch war ich gar nicht aktiv.
Spengler: Aber Sie haben sich befreit gefühlt dann irgendwann?
Balázs: Absolut! Absolut. Das haben wir miterlebt. Ich war am Kossuth-Platz vor dem Parlament, als die Republik am Jahrestag der Revolution ausgerufen wurde, dem 23. Oktober, und das war ein sehr gutes Gefühl, das Gefühl der Befreiung, würde ich sagen.
Spengler: Und wie haben Sie damals auf die DDR Erich Honeckers geschaut? Haben Sie die verstanden oder haben Sie den Kopf geschüttelt?
Balázs: Nein. Erich Honecker war für uns eine ganz altmodische Seite. Seit der Normalisierung nach der Revolution, ich glaube seit Anfang der 60er-Jahre, gab es einen wechselnden Unterschied zwischen den Verhältnissen in Ungarn und in der DDR. In Ungarn war das eine Auflösung der Diktatur, der berühmte Gulasch-Kommunismus mit vielen Freiheiten, mit ein bisschen Privatgeschäft und Privateigentum, mit weitgehenden Möglichkeiten, um nach Westen zu reisen und so weiter.
Spengler: Gulasch-Kommunismus ist ein gutes Stichwort. Ungarn war immer ökonomisch das Vorzeigeland des Ostblocks. Den Vorsprung gibt es heute nicht mehr. Die Verschuldung des Staates und der privaten Haushalte in Ungarn ist im Augenblick sehr groß. Vom Euro ist Ungarn ziemlich weit entfernt. Was ist schiefgelaufen?
Balázs: In den letzten Jahren war es das Gleichgewichts des Haushalts, was schiefgelaufen ist. Man hat vom Budget viel mehr Geld ausgegeben, als einbezahlt wurde.
Spengler: Man war wohl zu großzügig, man hat viele Wohltaten verteilt.
Balázs: Ja, genau. Aber in diesen Tagen, in diesen Monaten, nach dem letzten Regierungswechsel mit Ministerpräsident Bajnai hat unsere Regierung das Gleichgewicht wieder hergestellt und jetzt haben wir gute Aussichten nach so vielen Jahren von Problemen für eine führende Rolle in der Region. Für das nächste Jahr hat das Staatsbudget ein Defizit von 3,8 Prozent des BNP vorgesehen. Das könnte vielleicht eine der besten Zahlen in der Europäischen Union sein.
Spengler: So viel zur Wirtschaft, Herr Balázs. Wie gut ist Ungarn denn die Umwandlung, die Transformation von einem kommunistischen in einen demokratischen Staat gelungen?
Balázs: Das ist sehr schnell gegangen, Anfang der 90er-Jahre. Das war sehr leicht, weil es gab einerseits Traditionen. Man hat in Ungarn die Demokratie und Marktwirtschaft gar nicht vergessen. Das war eine Wiederherstellung eines Systems, das schon einmal da war. Andererseits gab es eine breite Unterstützung von der Bevölkerung für diese Wende, für diese Umstrukturierung des ganzen Lebens. Die Wende hat praktisch in sehr wenigen Jahren völlig stattgefunden.
Spengler: Inzwischen hat man aber den Eindruck, dass die Bevölkerung sich von der Politik auch ein bisschen abwendet, die Nase voll hat, weil Ungarn immer noch gespalten erscheint zwischen zwei großen Lagern. Wieso ist diese Versöhnung innerhalb von 20 Jahren nicht gelungen?
Balázs: Diese Spaltung ist erst später gekommen und meines Erachtens ist die heutige Opposition weitgehend Schuld daran, dass dieser Ton in der Politik, diese Methoden eingeführt wurden.
Spengler: Das müssen Sie natürlich als sozialistischer Politiker sagen, dass dies die Konservativen Schuld seien. Die würden das wahrscheinlich umgekehrt genauso sagen.
Balázs: Darüber kann man sprechen, aber das ist meine Überzeugung.
Spengler: Wir sprechen mit Ungarns Außenminister Peter Balázs. - Herr Balázs, Sie waren Botschafter in Dänemark, Sie waren Botschafter in Deutschland und bei der EU, Sie waren auch 2004 kurzfristig EU-Kommissar. Ist Europa in politischer und in ökonomischer Hinsicht inzwischen ein Kontinent?
Balázs: Es gibt bekannte Unterschiede. Diese Unterschiede waren früher außerhalb der Europäischen Union und mit der letzten Erweiterung hat die EU neue Kräfte, neue Dynamik, aber auch damit neue Probleme importiert.
Spengler: Kam die Erweiterung zu schnell?
Balázs: Ich glaube nicht. Das war ein bisschen verspätet im Vergleich zur Umstrukturierung des östlichen Teils des Kontinents. Ungarn könnte zehn Jahre früher schon ein EU-Mitglied sein, zusammen mit der damaligen Tschechoslowakei und Polen. Wir sollten für andere Länder warten. Damit hat sich die Zone der Freiheit und des Freihandels verbreitert. Aber mit 27 Mitgliedsstaaten bekommen wir schon in der EU drei verschiedene Entwicklungsniveaus. Es gibt den harten Kern, die am meisten entwickelten Staaten, es gibt die Semi-Peripherie, die gute Chancen hat für eine Aufschließung, und es gibt eine wirkliche Peripherie innerhalb der Europäischen Union, das ist Ost-Polen, ein Stückchen der Ost-Slowakei und Ost-Ungarn und dann das ganze Rumänien und Bulgarien. Damit muss man rechnen und man sollte vielleicht eine viel mehr differenzierte Kohäsionspolitik einführen, damit wir auf diese Herausforderung die geeigneten Antworten finden.
Spengler: Wird uns denn in Europa der Lissabon-Vertrag, der nun bald in Kraft treten kann, weiterbringen?
Balázs: Ja! Darauf haben wir seit langem gewartet. Der ganze Prozess hat ja am EU-Gipfel in Laeken in 2001 begonnen und wir haben meines Erachtens schon viel Zeit verloren. Jetzt können wir das teilweise einholen mit der schnellen Einführung der neuen institutionellen Änderungen in der Europäischen Union. Es ist höchste Zeit, um eine Vereinfachung der Strukturen und der Administration einzuführen, und alle warten jetzt auf das neue Regime in der EU und wir erhoffen davon eine Dynamisierung der ganzen Integration.
Spengler: Wen favorisiert denn Ungarn als künftigen Präsidenten des Europäischen Rats?
Balázs: Ich sehe noch nicht den geeigneten Kandidaten. Es gibt Namen, es gibt sehr gute Namen, aber wir brauchen eine Einigung der Mitgliedsstaaten. Die Regierungschefs werden darüber entscheiden.
Spengler: Soll der künftige EU-Präsident eher schwach sein, damit er den Staats- und Regierungschefs nicht ins Gehege kommt, oder soll er eine starke Persönlichkeit sein?
Balázs: Er sollte eine beeindruckende Persönlichkeit sein, ohne eine zu tiefe Einmischung in die Arbeit der Präsidentschaften. Es sollte eine gute Arbeitsteilung sein zwischen dem gewählten Präsidenten, dem ständigen Präsidenten, und der rotierenden Ratspräsidentschaften, weil der Ministerpräsident des Staates, der Präsidentschaft sollte auch manche Aufgaben bekommen. Also man sollte die zwei Dynamiken miteinander gut kombinieren.
Spengler: Peter Balázs, Außenminister Ungarns. Ich danke Ihnen für das Gespräch.
Peter Balázs: Guten Morgen.
Spengler: Herr Balázs, wie wichtig waren rückblickend betrachtet die Ereignisse in Ungarn für den Zusammenbruch des Ostblocks und für die Einheit Europas?
Balázs: Sehr wichtig. Das war eine gemeinsame Geschichte von Europa, aber hauptsächlich von Deutschland und Ungarn, teilweise auch Prag war dabei. Parallel mit diesen Ereignissen hat man in Ungarn die berühmten Rundtafel-Gespräch über die politische Wende begonnen. In den letzten Monaten des Jahres 1989 haben die damalige Macht, die Einparteistruktur, und die kaum strukturierte Opposition friedliche Verhandlungen im Parlamentsgebäude in Budapest geführt über die Übergabe der Macht.
Spengler: Auf welcher Seite standen Sie eigentlich damals? Sie waren ja im ungarischen Außenhandelsministerium. Haben Sie sich als Teil des Systems gefühlt oder als Oppositioneller?
Balázs: Ich war kein Oppositioneller. Ich war ein Experte für Außenbeziehungen, meistens für die EU und wirtschaftliche Organisationen. Politisch war ich gar nicht aktiv.
Spengler: Aber Sie haben sich befreit gefühlt dann irgendwann?
Balázs: Absolut! Absolut. Das haben wir miterlebt. Ich war am Kossuth-Platz vor dem Parlament, als die Republik am Jahrestag der Revolution ausgerufen wurde, dem 23. Oktober, und das war ein sehr gutes Gefühl, das Gefühl der Befreiung, würde ich sagen.
Spengler: Und wie haben Sie damals auf die DDR Erich Honeckers geschaut? Haben Sie die verstanden oder haben Sie den Kopf geschüttelt?
Balázs: Nein. Erich Honecker war für uns eine ganz altmodische Seite. Seit der Normalisierung nach der Revolution, ich glaube seit Anfang der 60er-Jahre, gab es einen wechselnden Unterschied zwischen den Verhältnissen in Ungarn und in der DDR. In Ungarn war das eine Auflösung der Diktatur, der berühmte Gulasch-Kommunismus mit vielen Freiheiten, mit ein bisschen Privatgeschäft und Privateigentum, mit weitgehenden Möglichkeiten, um nach Westen zu reisen und so weiter.
Spengler: Gulasch-Kommunismus ist ein gutes Stichwort. Ungarn war immer ökonomisch das Vorzeigeland des Ostblocks. Den Vorsprung gibt es heute nicht mehr. Die Verschuldung des Staates und der privaten Haushalte in Ungarn ist im Augenblick sehr groß. Vom Euro ist Ungarn ziemlich weit entfernt. Was ist schiefgelaufen?
Balázs: In den letzten Jahren war es das Gleichgewichts des Haushalts, was schiefgelaufen ist. Man hat vom Budget viel mehr Geld ausgegeben, als einbezahlt wurde.
Spengler: Man war wohl zu großzügig, man hat viele Wohltaten verteilt.
Balázs: Ja, genau. Aber in diesen Tagen, in diesen Monaten, nach dem letzten Regierungswechsel mit Ministerpräsident Bajnai hat unsere Regierung das Gleichgewicht wieder hergestellt und jetzt haben wir gute Aussichten nach so vielen Jahren von Problemen für eine führende Rolle in der Region. Für das nächste Jahr hat das Staatsbudget ein Defizit von 3,8 Prozent des BNP vorgesehen. Das könnte vielleicht eine der besten Zahlen in der Europäischen Union sein.
Spengler: So viel zur Wirtschaft, Herr Balázs. Wie gut ist Ungarn denn die Umwandlung, die Transformation von einem kommunistischen in einen demokratischen Staat gelungen?
Balázs: Das ist sehr schnell gegangen, Anfang der 90er-Jahre. Das war sehr leicht, weil es gab einerseits Traditionen. Man hat in Ungarn die Demokratie und Marktwirtschaft gar nicht vergessen. Das war eine Wiederherstellung eines Systems, das schon einmal da war. Andererseits gab es eine breite Unterstützung von der Bevölkerung für diese Wende, für diese Umstrukturierung des ganzen Lebens. Die Wende hat praktisch in sehr wenigen Jahren völlig stattgefunden.
Spengler: Inzwischen hat man aber den Eindruck, dass die Bevölkerung sich von der Politik auch ein bisschen abwendet, die Nase voll hat, weil Ungarn immer noch gespalten erscheint zwischen zwei großen Lagern. Wieso ist diese Versöhnung innerhalb von 20 Jahren nicht gelungen?
Balázs: Diese Spaltung ist erst später gekommen und meines Erachtens ist die heutige Opposition weitgehend Schuld daran, dass dieser Ton in der Politik, diese Methoden eingeführt wurden.
Spengler: Das müssen Sie natürlich als sozialistischer Politiker sagen, dass dies die Konservativen Schuld seien. Die würden das wahrscheinlich umgekehrt genauso sagen.
Balázs: Darüber kann man sprechen, aber das ist meine Überzeugung.
Spengler: Wir sprechen mit Ungarns Außenminister Peter Balázs. - Herr Balázs, Sie waren Botschafter in Dänemark, Sie waren Botschafter in Deutschland und bei der EU, Sie waren auch 2004 kurzfristig EU-Kommissar. Ist Europa in politischer und in ökonomischer Hinsicht inzwischen ein Kontinent?
Balázs: Es gibt bekannte Unterschiede. Diese Unterschiede waren früher außerhalb der Europäischen Union und mit der letzten Erweiterung hat die EU neue Kräfte, neue Dynamik, aber auch damit neue Probleme importiert.
Spengler: Kam die Erweiterung zu schnell?
Balázs: Ich glaube nicht. Das war ein bisschen verspätet im Vergleich zur Umstrukturierung des östlichen Teils des Kontinents. Ungarn könnte zehn Jahre früher schon ein EU-Mitglied sein, zusammen mit der damaligen Tschechoslowakei und Polen. Wir sollten für andere Länder warten. Damit hat sich die Zone der Freiheit und des Freihandels verbreitert. Aber mit 27 Mitgliedsstaaten bekommen wir schon in der EU drei verschiedene Entwicklungsniveaus. Es gibt den harten Kern, die am meisten entwickelten Staaten, es gibt die Semi-Peripherie, die gute Chancen hat für eine Aufschließung, und es gibt eine wirkliche Peripherie innerhalb der Europäischen Union, das ist Ost-Polen, ein Stückchen der Ost-Slowakei und Ost-Ungarn und dann das ganze Rumänien und Bulgarien. Damit muss man rechnen und man sollte vielleicht eine viel mehr differenzierte Kohäsionspolitik einführen, damit wir auf diese Herausforderung die geeigneten Antworten finden.
Spengler: Wird uns denn in Europa der Lissabon-Vertrag, der nun bald in Kraft treten kann, weiterbringen?
Balázs: Ja! Darauf haben wir seit langem gewartet. Der ganze Prozess hat ja am EU-Gipfel in Laeken in 2001 begonnen und wir haben meines Erachtens schon viel Zeit verloren. Jetzt können wir das teilweise einholen mit der schnellen Einführung der neuen institutionellen Änderungen in der Europäischen Union. Es ist höchste Zeit, um eine Vereinfachung der Strukturen und der Administration einzuführen, und alle warten jetzt auf das neue Regime in der EU und wir erhoffen davon eine Dynamisierung der ganzen Integration.
Spengler: Wen favorisiert denn Ungarn als künftigen Präsidenten des Europäischen Rats?
Balázs: Ich sehe noch nicht den geeigneten Kandidaten. Es gibt Namen, es gibt sehr gute Namen, aber wir brauchen eine Einigung der Mitgliedsstaaten. Die Regierungschefs werden darüber entscheiden.
Spengler: Soll der künftige EU-Präsident eher schwach sein, damit er den Staats- und Regierungschefs nicht ins Gehege kommt, oder soll er eine starke Persönlichkeit sein?
Balázs: Er sollte eine beeindruckende Persönlichkeit sein, ohne eine zu tiefe Einmischung in die Arbeit der Präsidentschaften. Es sollte eine gute Arbeitsteilung sein zwischen dem gewählten Präsidenten, dem ständigen Präsidenten, und der rotierenden Ratspräsidentschaften, weil der Ministerpräsident des Staates, der Präsidentschaft sollte auch manche Aufgaben bekommen. Also man sollte die zwei Dynamiken miteinander gut kombinieren.
Spengler: Peter Balázs, Außenminister Ungarns. Ich danke Ihnen für das Gespräch.