Dienstag, 19. März 2024

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Ungarns Blockade der EU-Corona-Hilfen
„Es geht natürlich nicht um die Rechtsstaatlichkeit an sich“

Ungarn und Polen blockieren den Corona-Hilfsfonds der EU. Beide stören sich an einer Klausel, wonach Gelder bei Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit gekürzt werden können. Der Politologe Zoltan Kiszelly kritisierte im Dlf, dass bei der Debatte das Thema Rechtsstaatlichkeit zu Unrecht im Fokus stehe.

Zoltan Kiszelly im Gespräch mit Peter Sawicki | 05.12.2020
Blick auf das Parlamentsgebäude in Budapest (Ungarn)
Blick auf das Parlamentsgebäude in Budapest. Zoltan Kiszelly arbeitet auch als Berater der Regierung von Viktor Orbán. (picture alliance (Zoonar / Yury Dmitrienko) )
Es gehe vielmehr darum, worauf sich die Staats- und Regierungschefs im Juli geeinigt haben, sagte Zoltan Kiszelly, der auch als Berater der Regierung von Viktor Orbán in Budapest tätig ist. "Sie haben sich in ihrer Abschlusserklärung darauf geeinigt, die Auszahlung, die Verwendung der EU-Gelder stärker zu kontrollieren. Das Wort Rechtsstaatlichkeit oder Rechtsstaatlichkeitsmechanismus kommt in dieser Abschlusserklärung gar nicht vor." Entscheidender sei vielmehr die Frage: "Wer beurteilt, was Rechtsstaatlichkeit ist und wer beurteilt, wie Rechtsstaatlichkeit sich in dem Mitgliedsstaat gestaltet?"
Angst vor Ungleichbehandlung beim Thema Haushaltsführung
Kiszelly erklärte, in Budapest und Warschau befürchte man, dass die Kontrolle der Verwendung der EU-Gelder selektiv angewendet werden könnte – gegen Staaten, die sich gegen die Brüsseler Politik stellen.
Die EU darf sich nicht erpressen lassen
Polen und Ungarn haben ihr Veto gegen die EU-Finanzplanung bis 2027 und das damit verbundene Corona-Hilfspaket eingelegt, um so gegen den geplanten Rechtsstaatsmechanismus der EU zu protestieren. Damit nehmen die Regierungen der beiden Länder den Rest der EU in Geiselhaft, kommentiert Peter Kapern.
Mit Blick auf den Demokratiebericht der EU-Kommission kritisierte Kiszelly, dass bei dessen Erstellung nicht objektiv vorgegangen worden sei, "sondern dass da Nichtregierungsorganisationen beauftragt worden sind, die aber nur eine Lesart der Rechtsstaatlichkeit oder dieser Bereiche nehmen."
Bislang ist keine Annäherung zwischen Ungarn und Polen auf der einen und dem Rest der EU auf der anderen Seite zu erkennen. Während Kiszelly die bisherige Haltung Ungarns bestätigte ("Ja, wir bleiben bei dem Veto und hoffen, dass sich mit der portugiesischen Präsidentschaft besser verhandeln lässt als mit der deutschen") wird parallel bereits diskutiert, das Corona-Hilfsprogramm notfalls ohne die beiden Staaten auf den Weg zu bringen.

Peter Sawicki: Ist Ungarn ein Rechtsstaat?
Zoltan Kiszelly: Ja, auf jeden Fall. Die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn funktioniert, die Gerichte arbeiten, die Staatsanwaltschaft arbeitet. Natürlich, die Rechtsstaatlichkeit ist nicht eindeutig in der EU definiert. In dem zweiten Artikel des Lissabon-Vertrages sind sehr stark postuliert ... und diese Werte werden auch von Ungarn geteilt. Es geht natürlich nicht um die Rechtsstaatlichkeit an sich, sondern es geht um einen sogenannten Rechtsstaatlichkeitsmechanismus, die Frage also: Wer beurteilt, was Rechtsstaatlichkeit ist und wer beurteilt, wie Rechtsstaatlichkeit sich in dem Mitgliedsstaat gestaltet?
Sawicki: Aber das ist ja klar geregelt. Die EU-Kommission soll ja dann – das ist ja jetzt der Vorstoß –, die soll ja Strafen auf den Weg bringen, die müssen auch erst mal politisch beschlossen werden, und man kann sich dagegen ja auch zur Wehr setzen. Und wenn Ungarn sowieso, wie Sie sagen, ein Rechtsstaat ist, was hat es dann zu befürchten?
Kiszelly: Sehen Sie, das ist die falsche Debatte. Die Debatte auf ungarischer und polnischer Seite geht nicht darum, ob Ungarn ein Rechtsstaat ist oder nicht, es geht darum, worauf sich die Staats- und Regierungschefs im Juli geeinigt haben. Sie haben sich in ihrer Abschlusserklärung darauf geeinigt, die Auszahlung, die Verwendung der EU-Gelder stärker zu kontrollieren. Das Wort Rechtsstaatlichkeit oder Rechtsstaatlichkeitsmechanismus kommt in dieser Abschlusserklärung gar nicht vor. In Budapest und Warschau hat man die Angst, dass dieser Mechanismus, der schon seit ... geplant ist, dass der selektiv angewendet wird. Erlauben Sie mir kurz ein Beispiel: In der EU gibt es schon etliche Mechanismen zur Kontrolle des Haushaltes, der sogenannten Maastricht-Kriterien. Es gab den Stabilitäts- und Wachstumspakt, und dieser wurde zuerst von Deutschland unter der Schröder-Regierung verletzt, und so hat man das schon außer Kraft gesetzt. Die ungarische EU-Präsidentschaft 2011 hatte schärfere Haushaltsregeln durchgesetzt, mit Unterstützung aller Mitgliedsstaaten, und diese wurden auch nicht durchgesetzt. Als Jean-Claude Juncker gefragt wurde, warum er kein überhöhtes Defizitverfahren gegenüber Frankreich eröffnet hat, hat er die Hände geschüttelt und sagte, na ja, Frankreich ist Frankreich, wir können dagegen kein Haushaltsverfahren einleiten. Und gegen welchen Staat hat man dieses überhöhte Defizitverfahren eingeleitet? Gegen die italienische Regierung, wo Matteo Salvini
beteiligt war. Das war das erste Mal, dass die scharfen Strafen angedroht wurden, die in diesen Regelwerken praktisch stehen, aber nie zuvor angewandt worden sind. ... haben sie Angst, dass dieser Mechanismus beschlossen wird, dass dann das Selektiv politisch angewendet wird gegen Staaten, die sich gegen die Brüsseler Politik stellen.
Kritik: Demokratiebericht nicht objektiv gestaltet
Sawicki: Das ist ja auch schon oft kritisiert worden, diese Ungleichbehandlung, das wird auch immer wieder thematisiert beim Thema der Haushaltsführung, aber was hat das jetzt mit der Frage der Rechtsstaatlichkeit zu tun, der Frage, wie Gerichte funktionieren und ob es eine pluralistische Medienlandschaft in einem Land beispielsweise gibt?
Kiszelly: Man kann über alles diskutieren, aber wie gesagt, in der Abschlusserklärung der Staats- und Regierungschefs steht nichts über Gerichte, steht nichts über die Medienlandschaft. Im September hat die EU-Kommission den ersten Demokratiebericht vorgestellt, und da sind vier Bereiche untersucht worden in jedem Mitgliedsstaat, zum Beispiel die Gerichte, die Medien, die Wissenschaft und die Korruption. Da hat Ungarn auch die Kritik, dass das auch nicht objektiv aus unserer Sicht vorgenommen wurde, sondern dass da Nichtregierungsorganisationen beauftragt worden sind, die aber nur eine Lesart der Rechtsstaatlichkeit oder dieser Bereiche nehmen. Zum Beispiel in Ungarn oder in Polen wird gesagt, auch in der Verfassung geschrieben, dass eine Familie aus Mann, Frau und Kindern besteht. Wenn diese Nichtregierungsorganisationen auch andere Arten des Zusammenlebens als eine Familie sehen oder das gleichrangig betrachten, dann widerspricht das zum Beispiel der ungarischen oder polnischen Verfassung. Und das kann man nicht ...
Sawicki: Aber Herr Kiszelly, keiner sagt doch in Brüssel und anderen Mitgliedsstaaten, dass solche Gesetze in Ungarn beschlossen werden sollen.
Kiszelly: Sagen Sie das nicht, sagen Sie das nicht.
Sawicki: Wer sagt das denn?
Kiszelly: Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin will zum Beispiel einen LGBTQ-Beauftragten einsetzen bei der Kommission, und zum Beispiel soll die Auszahlung von Fördergeldern an die Regierung von ... für Gleichgeschlechtliche angeboten werden. Das ist nur ein Beispiel, das ist die Spitze des Eisberges, aber da können Sie sehen, dass das sehr ... von der Mehrheit dieser Gesellschaft dann nicht geteilt werden, dass die einem übergestülpt werden. Das sind diese Ängste, die hier bestehen. Wie gesagt, darüber steht gar nichts in diesen Verträgen, davon steht gar nichts in der Abschlusserklärung, und da sieht man auch eine Überdehnung des Begriffes und als eine Mehrheitsentscheidung. In der EU sollen Entscheidungen möglichst mit Konsens getroffen werden, dieser Rechtsstaatsmechanismus wurde mit einer Mehrheitsentscheidung beschlossen, und das ist auch in der Kritik.
Krisenmanagerin von der Leyen
Seit einem Jahr steht Ursula von der Leyen an der Spitze der EU-Kommission. Geprägt wurde ihre bisherige Amtszeit von der Corona-Krise. Die größte Herausforderung steht für die Präsidentin noch bevor: Die Kommission muss den Aufbauplan für Europa durchbringen, gegen die Blockade von Polen und Ungarn.
Sawicki: Aber Sie sagen jetzt, die Ängste, die Sie haben, die beziehen sich auf das Beispiel, was Sie genannt haben, aber es gibt ja handfeste Kritik an Ungarn, ein Beispiel ist das Hochschulgesetz, das ja der EuGH als unabhängige Institution verhängt hat beziehungsweise als EU-rechtswidrig eingestuft hat, und das sind ja die Beispiele, auf die sich das bezieht. Warum haben Sie dann die Angst, dass das bei anderen Themen sozusagen dann selektiv angewandt werden sollte?
Kiszelly: Wie gesagt, wir sprechen wieder über ein Thema, was in der Abschlusserklärung vom Juli überhaupt nicht erwähnt ist. Hochschule ist nicht Teil des EU-Beschlusses, und Beschlüsse des EuGH wurden von der ungarischen Regierung durchgesetzt, das heißt dort, wo kritisiert wurde, dort wo Rechtsverstöße oder Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht praktisch beschlossen wurden, sind sofort alle geändert worden. Aber man kann das nicht über einen Kamm scheren. In Deutschland haben wir ein Verfassungsgericht, in Ungarn haben wir ein Verfassungsgericht, in anderen Mitgliedsstaaten haben wir das nicht. In Ungarn ist die Staatsanwaltschaft dem Parlament unterstellt, in den Niederlanden der Regierung.
Sawicki: Wir haben nicht mehr viel Zeit, Herr Kiszelly, eine Frage muss ich Ihnen noch stellen: Wird Ungarn bei dem Nein, bei dem Veto bleiben? 30 Sekunden haben wir noch Zeit?
Kiszelly: Ja, wir bleiben bei dem Veto, wir hoffen, dass mit der portugiesischen Präsidentschaft sich besser verhandeln lässt als mit der deutschen.
Sawicki: Also auch kein Kompromiss, den Ungarn eingehen wird?
Kiszelly: Nein, wir haben Kompromissvorschläge, aber das Parlament und die anderen Staaten sind stur. Nicht nur in Ungarn, nicht nur ... es kommt auf einen Kompromiss an, nicht nächste Woche, sondern vielleicht im Januar.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.