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Ungebrochener Freiheitsdrang

Charlotte Delbo wurde am 10. August 1913 nahe Paris geboren. Sie war aktiv im Widerstand gegen Hitler, wurde verhaftet und ins Konzentrationslager deportiert. Ihre Erinnerungen an "Auschwitz und danach" zählen zu den eindrucksvollsten literarischen Zeugnissen des 20. Jahrhunderts.

Von Jochen Stöckmann | 10.08.2013
    "Ich war in Auschwitz und sagte mir: Sollte ich je zurückkehren, werde ich ein Buch schreiben – mit dem Titel 'Keine von uns wird zurückkehren', nach einem Vers von Guillaume Apollinaire. Dass dieses Buch erst nach zwanzig Jahren veröffentlicht werden dürfte, vertraute ich einer Freundin an, die wie ich deportiert worden war. Es sollte doch ein wirkliches 'Oeuvre' werden, und deshalb müsste ich es in dieser Zeit immer wieder durcharbeiten. Das mag sinnlos gewesen sein, vermessen oder überflüssig."

    Tatsächlich hat Charlotte Delbo, die im Januar 1943 zusammen mit 230 anderen Frauen aus Paris nach Auschwitz deportiert worden war, bis 1965 gewartet: Immer wieder prüfte die einstige Redakteurin der Résistance-Zeitschrift "Les Lettres Françaises", was sie sofort nach ihrer Rückkehr aus dem Konzentrationslager in einer Kladde notiert hatte.

    Geboren am 10. August 1913 als Tochter italienischer Einwanderer in der Nähe von Paris, war Delbo in der Banlieue aufgewachsen und hatte sich im Kommunistischen Jugendverband engagiert. Sie schloss sich der Résistance an. Im Mai 1942 flog ihre Widerstandsgruppe auf. Delbos Ehemann Georges Dudach wurde hingerichtet, sie selbst erst nach Auschwitz, dann nach Ravensbrück verschleppt – wo sie Unbeschreibbares durchlitt. Mit physischen und vor allem psychischen Folgen, die ihr Verhältnis zur Literatur prägten:

    "Gibt es in den Büchern für mich nichts mehr zu finden? Sind sie alle bedeutungslose Wiederholung, hübsche, bilderreiche Beschreibung, belanglose Folge von Wörtern? Ich sah die Banalität, die Konvention, die Leere. Und ich war verzweifelt, jede Fähigkeit von Illusion und Traum, jede Aufgeschlossenheit für das Imaginäre, für das Erkennen verloren zu haben. Das ist es, was von mir in Auschwitz gestorben ist."

    Ihr Freiheitsdrang, der Geist der Résistance schien ungebrochen: 1961, in der heißen Phase des Algerienkriegs, gab Charlotte Delbo "Les belles lettres" heraus, einen Sammelband mit Briefen und Manifesten gegen Frankreichs Kolonialpolitik. Zum Umgang mit ihrer eigenen Geschichte fand die Autorin von Theaterstücken und Radiofeatures wohl erst 1965 mit der Veröffentlichung des Buches "Keine von uns wird zurückkehren".

    Als sei damit der Bann gebrochen, folgten dann 1970 und 1971 zwei weitere Bände über "Auschwitz und danach". Die Titel "Ein nutzloses Wissen" und "Maß unserer Tage" deuten an, was es mit diesen literarischen Zeugnissen auf sich hat: Weder nüchterner Bericht noch ausschließlich subjektive Erzählung, vereinen sie in einer irritierenden Collage erbarmungslos detaillierte Schilderungen der Qualen mit verträumten Poemen, bringen anekdotisches Erinnern und analytisches Reflektieren zusammen, ziehen schließlich den Leser hinein in den Strudel der Vergegenwärtigung beim Schreiben. Etwa mit Rückblenden auf den Lageralltag:

    Sie ist nackt. Man erkennt die Rippen und Hüftknochen. Sie legt sich die Decke wieder um die Schultern und tanzt weiter. Ein mechanischer Tanz. Ein tanzendes Frauenskelett. Ihre Füße sind klein, mager und nackt im Schnee. Es gibt Skelette, die leben und die tanzen. … Und jetzt sitze ich in einem Café und schreibe diese Geschichte auf - denn es wird zu einer Geschichte."

    Solche Szenen empfand manch einer als unpassend, unangemessen, aber Charlotte Delbo konterte:

    "Ich finde das nicht makaber. Und viele Leser sind betroffen, berührt. Es ist vielleicht an der Grenze des Erträglichen. Aber es liegt für mich auch ein solcher Wille zum Überleben darin, eine Kraft der Selbstbehauptung, die aus der Solidarität mit den anderen herrührt."

    Diese gegenseitige Hilfe unter den deportierten Frauen in Auschwitz würdigte Charlotte Delbo nicht nur in Porträtminiaturen all ihrer Mitgefangenen – mit der Berufung auf ein vielfältiges Autoren-"Wir" hat die 1985 in Paris gestorbene Schriftstellerin die Solidarität zu ihrem literarischen Prinzip erhoben.