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Unheimliche Heimat im Allgäu

Der 2001 in England verunglückte Schriftsteller WG Sebald hatte zeitlebens ein gespaltenes Verhältnis zu seiner Heimat Deutschland und auch zu seinem Geburtsort Wertach im Allgau. Trotzdem haben in Wertach einige Leser einen Sebald-Wanderweg ins Leben gerufen.

Von Daniel Stender | 13.11.2011
    Eine spätsommerliche Wanderung im Allgäu, von der österreichischen Grenze geht es hinunter in den Ort Wertach. Vorbei an allem, was der Tourist hier erwarten kann:

    "Almwiesen, Schumpen am Wegesrand, Jungrinder, Sorgschrofen, vor uns zwei Alpen, Reuther Wanne, Spätsommertag, ganz schön."

    Wenn da nur nicht dieser beunruhigende Text wäre, auf den die Wertacher Ärztin Martha Egger-Feichtinger und sechs weitere Wanderer immer wieder stoßen. Ein Text, der auf sechs metallene Stelen angebracht wurde, die wie Mahnmale in die alpine Postkartenlandschaft gerammt sind. Ein Text, in dem auch eine Wanderung von der österreichischen Grenze nach Wertach beschrieben wird. Allerdings bei trübem Wetter und düsteren Gedanken.

    Inge Speker:

    "Das Wetter hatte inzwischen wieder umgeschlagen. Eine dunkle, ins Schwarzfarbene übergehende Wolkendecke lag über dem ganzen Tannheimer Tal, das einen niedergedrückten, lichtlosen und gottverlassenen Eindruck machte."

    "Il ritorno in patria" - die Rückkehr in die Heimat. So heißt der Text des in Wertach geborenen Schriftstellers WG Sebald, auf dessen Spuren die Wanderer bei besserer Laune und besserem Wetter unterwegs sind.

    Inge Speker:

    "...den Albsteigtobel hinab nach Krummenbach und von dort über das Unterjoch, die Pfeiffermühle und das Enge Plätt nach W. hinausgehen."

    Im Dezember 2001 starb WG Sebald bei einem Autounfall. Und während in den Feuilletons und an den Universitäten auf der ganzen Welt des Schriftstellers gedacht wurde, kam auch in Wertach die Frage auf, wie man an den berühmten Sohn des Ortes erinnern könnte. Dieter Kraus, der Leiter des Tourismusamtes:

    "Seine Geschwister und seine Mutter, die waren ja bei uns. Wir wollten eigentlich im Museum eine Ecke einrichten und seine Schwestern haben gesagt, das hätte er nicht gewollt, im Museum verstauben. Und so ist die Idee geboren worden mit dem Sebald-Weg."

    Martha Egger-Feichtinger:

    "Das wär nach seinem Geschmack, das tät ihm gefallen."

    Melchior Fischer:

    "Er war ein dezidierter Wanderer, er hat das Autofahren nicht gemocht und seine Protagonisten - alle sind ständig unterwegs zu Fuß oder mit Zug, mit dem Rucksack."

    Susan Sontag bezeichnete ihn einmal als "Sebald the Wanderer", aber Sebalds Protagonisten treten sich beim Wandern nicht nur Löcher in die Fußsohlen: In einem assoziativen Gedankenstrom vermischt sich die Biografie des Autors mit der jüngsten Geschichte. Mit dem zweiten Weltkrieg, dem Holocaust, den Schicksalen von Ausgewanderten und Verfolgten.

    Inge Speker:

    "Jetzt sind wir an der zweiten Stele. Im Albsteigtobel. Wir sind von Fichten umgeben. Weiter oben sieht man die Sorgschroffe, ein sehr schöner Kletterberg, und hier hört man den Wasserfall auch rauschen, der auch in der Stele beschrieben wird vom Sebald. Und jetzt denke ich, Du möchtest lesen."

    Martha Egger-Feichtinger:

    "Nein, nein. Also, ich lese auch, wenn niemand sonst will. Also: Im Tobel. Der Tobel war erfüllt von einer Dunkelheit, wie ich sie mitten am Tag nicht für möglich gehalten hätte."


    Die Beziehung zwischen dem Dichter und seinem Geburtsort ist nicht einfach. Als "Il ritorno in patria" in der Lokalzeitung abgedruckt wurde, sahen sich die älteren Wertacher diffamiert: Als die Allgäuer Bauern mit dem engen Weltbild und dem ausrasierten Nacken.

    Martha Egger-Feichtinger:

    "Für einen Laien ist das schwierig, der liest das und sagt: Herrschaftszeiten! Das schreibt er, da meint der mich. Das ist ja bodenlos!"

    Sebalds Wertach ist von düsteren Assoziationen geprägt: So beschreibt der Erzähler des Romans "Austerlitz" einen Besuch in der Gedenkstätte der belgischen Festung Breendonk. Im Zweiten Weltkrieg folterte hier die SS und fast schon zwangsläufig führen ihn die Assoziationen nach Wertach. Zur Metzgerei "an der ich immer vorbeimusste auf dem Weg in die Schule und wo man am Mittag oft den Benedikt sah in einem Gummischurz, wie er die Kacheln abspritzte mit einem dicken Schlauch."

    Dieter Kraus:

    "Am Anfang wusste auch im Dorf kaum jemand, dass es den Sebald gibt, erst durch den Unfalltod kam es in der Presse. Und dann kamen verschiedene Familien, die uns angedroht haben, sie würden uns verklagen, wenn wir das Buch in der Bücherei auslegen würden, und wir haben es dann nur auf Anfrage, unterm Ladentisch rausgegeben."

    Für den Hamburger Holger Doose, für den Wertach zur Wahlheimat geworden ist, geht es in den Texten gar nicht um einen konkreten Ort:

    Holger Doose:

    "Das könnte ich überall machen, in jedem anderen Dorf, in jeder anderen Stadt, wenn ich die Leute mit der jüngsten Vergangenheit konfrontiere und sage - was hast Du im Krieg gemacht, dann sind die genauso betroffen und pikiert, genau wie die Wertacher."

    Martha Egger-Feichtinger:

    "Keinen Laut gab es in dem Tobel als den des Wassers auf seinem Grund, keinen Vogelschrei nichts. In zunehmendem Maße verspürte ich ein Gefühl der Beklemmung in meiner Brust und mir war auch, als ob es, je weiter ich hinunterkam, desto kälter und finsterer werde."

    Gegen einige Widerstände wurde 2005 der Sebald-Wanderweg eingeweiht, mit den Stelen und den Zitaten aus "Il ritorno in patria". Die Wanderung führt Sebald-Fans aus aller Welt in den Ort, erklärt Dieter Kraus vom Tourismusamt:

    "Letztes Jahr waren aus Mexiko welche da, die sich für Sebald interessiert haben. Mexiko, LA, Taiwan. Die suchen dann konsequent die Spuren ab vom Sebald, die laufen den Sebald-Weg, die besuchen das Geburtshaus, aber es ist keine Massenbewegung, die ausschließlich wegen Sebald nach Wertach kommen. Wir können nicht durch die Sebald-Fans unsere Betten füllen, aber es ist eine Nische."

    Auch die Wertachern lernen den Schriftsteller durch den Wanderweg besser kennen. Allerdings sind die Sebald-Leser im Ort bis heute eine Minderheit - eine Minderheit, die sich in seinen Texten ebenso zu Hause fühlt, wie auf den Wanderwegen des Allgäus.

    Melchior Fischer:

    "Sebald hält sich oft an Allgäuer Modalitäten, was die Sprache angeht."

    Martha Egger-Feichtinger:

    "Ja! Er schreibt von weißen Blachen. Blache ist ein Teppich, er schreibt auch minderes Wetter, das ist auch kein hochdeutsches Wort. Das sagt man so im Allgäu, das Wetter ist minder."

    Rund drei Stunden dauert die Wanderung. Im Vergleich zu Sebalds Text, der in den 80er-Jahren entstanden ist, hat sich die Landschaft verändert: Die verfallene Krummbacher Kapelle am Wegesrand zum Beispiel ist herausgeputzt und renoviert.

    Holger Doose:

    "Im Engen Plätt. Das letzte Tageslicht war im Schwinden, als ich ins Enge Plätt kam."

    Und auch das finstere Enge Plätt, eine Schlucht kurz vor Ende der Wanderung wurde in eine breite Straße verwandelt.

    Holger Doose:

    "Im Engen Plätt war es im April 1945 zu einem sogenannten letzten Gefecht gekommen, bei dem der 24-jährige Alois Thimet von Rosenheim (...)"

    Nur wenig lässt Sebalds unheimliche Heimat heute so düster und beunruhigend wirken, wie er sie einst beschrieben hat. Wenn nur nicht die Stelen mit seinem Text mitten in die idyllische Landschaft ragen würden.

    Holger Doose:

    "'... und der aus Börneke stammende Werner Hempel (unbekannten Geburtsjahrs) für das Vaterland, wie es auf dem eisernen Kreuz der in W. bis auf den heutigen Tag bestehenden Grabschaft heißt, gefallen sind.' ... ganz schön lange Sätze!"
    Schriftzug an der Gedenksäule für W. G. Sebald
    Schriftzug an der Gedenksäule für W. G. Sebald (Daniel Stender)
    Tafel am Geburtshaus des Schriftstellers W.G. Sebald
    Tafel am Geburtshaus des Schriftstellers W.G. Sebald (Daniel Stender)