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Universität Heidelberg
Wikipedia-Eintrag statt Hausarbeit

Wer im Studium eine wissenschaftliche Hausarbeit schreibt, steckt oft viel Zeit und Energie in sein Werk. Damit die Arbeit auch der Allgemeinheit zugutekommen kann, bietet die Universität Heidelberg Seminare an, in denen Studierende statt Hausarbeiten Wikipedia-Artikel verfassen. Doch die Wikipedia-Community kann ganz schön eigenwillig sein.

Von Martina Senghas | 20.02.2017
    Die Silhouette eines Mannes, der mit seinem Finger auf das Wort Wikipedia zeigt, ist vor der Internetseite der Online-Enzyklopädie Wikipedia zu sehen.
    Die Studierenden an der Uni Heidelberg haben beste Chancen auf eine gute Note, wenn die Wikipedia-Community einem Artikel die Auszeichnung "lesenswert" erteilt. (picture alliance / dpa / Robert Schlesinge)
    Philipp Hill ist ein Heidelberger Soziologiestudent im dritten Semester. Wikipedia hat er bisher nur als Konsument genutzt und im Studium die Erfahrung gemacht, dass die Wissenschaft eher mit Skepsis auf die Ehrenamt-Enzyklopädie guckt. Aber jetzt sitzt er im Rahmen eines Uni-Seminars an seinem ersten eigenen Wikipedia-Artikel:
    "Es gibt einen bestehenden Artikel in Wikipedia über Liebe. Da gibt es einen Abschnitt, den ich unbedingt überarbeiten möchte, Soziologie der Liebe – der ist momentan noch sehr undifferenziert und den möchte ich gerne ausarbeiten."
    "Der Allgemeinheit was zur Verfügung stellen"
    Auch Kommilitonin Cristina Schwinghammer versucht zum ersten Mal in ihrem Leben, aktiv bei Wikipedia mitzumachen. Sie beschäftigt sich mit dem Begriff "Kollektive Identität":
    "Also ich hab erst mal an dem Seminar teilgenommen 'Wirtschaft und Gesellschaft in Argentinien', da ist angekoppelt gewesen die Wikipedia-Übung, und ich hab dann ein bisschen überlegt, ob ich jetzt einem Wikipedia-Eintrag schreiben möchte oder lieber eine Hausarbeit. Ich hab mich für den Wikipedia-Eintrag entschieden, weil man da einfach der Allgemeinheit was zur Verfügung stellen kann und man sieht, man hat tatsächlich was geleistet, was auch jeder sehen kann."
    Umgang mit einer kollaborativen Online-Enzyklopädie lernen
    Bis es soweit ist, dass alle sehen können, was man geleistet hat, müssen die Studierenden allerdings noch etwas über Wikipedia selbst lernen. Unterstützt werden sie dabei gleichzeitig von der Soziologin Friederike Elias und dem Philosophen Christian Vater – die beiden bieten das Wikipedia-Seminar bereits zum wiederholten Mal an:
    "Wir geben nichts vor, aber das gehört eben auch zur Aufgabe in unserem Seminar dazu, ein Thema zu finden, das man sich erarbeiten möchte. Also entweder man überlegt sich seine Begriffe und kontrolliert, ob dazu schon Artikel vorhanden sind, oder man liest thematisch relevante Artikel und sucht nach roten Links, also nach missing links, nach fehlenden Stellen, wo gezielt dann weitergearbeitet werden kann."
    "Man erlernt den Umgang mit einer kollaborativen Online-Enzyklopädie und zwar von der Software, vom Bedienen der Software bis zur Strukturierung."
    Die eigene Meinung ist weniger gefragt
    Hinzu kommt der Umgang mit der teilweise recht eigenwilligen Wikipedia-Community. Dafür haben sich die beiden Seminarleiter noch jemanden mit dazu geholt: Heiko Fischer, er ist selbst im dritten Semester, aber bereits ein erfahrener Wikipedia-Autor. Seit seiner Schulzeit schreibt er für das Online-Lexikon:
    "Also der Punkt, der von der Wikipediaseite häufig zu erklären ist, sind die verschiedenen Kanäle, die verschiedenen Metabereiche, die eben außerhalb des eigentlichen Artikel-Bereichs stehen. Und ein anderer Punkt, der vom Schreibprozess her kommt, ist eben gerade der Unterschied zwischen einer Hausarbeit und einem Wikipedia-Artikel. Also zusammengefasst: In einer Hausarbeit ist man mehr oder weniger dazu angehalten, seine eigene Meinung zu finden, zu formulieren und zu vertreten argumentativ. Und in der Wikipedia soll man grade das nicht tun und nur das schreiben, was in der Forschung schon bestätigt ist."
    "Die Wikipedianerinnen und Wikipedianer bewerten strenger und härter"
    Doch selbst wer alle Kriterien der Textsorte "Lexikonartikel" einhält, muss sich darauf einstellen, dass im sogenannten Wikiversum viele mitreden wollen. Cristina Schwinghammer und Philipp Hill:
    "Es gibt diese Diskussionsseiten. Irgendwann hatte man zwar gesehen, dass es da was gibt, aber man hatte sich nie wirklich damit befasst."
    "Es wird alles diskutiert, es werden sämtliche Versionen gespeichert, es wird immer wieder darüber beratschlagt, welche Bereiche schon gut ausdifferenziert sind und welche haltbar belegt sind."
    Vom Umgang mit Computersoftware bis zur Diskussions- und Dialogfähigkeit, wer einen Wikipedia-Artikel verfasst, der übt sich gleich in mehreren Schlüsselqualifikationen, davon sind die Dozenten überzeugt. Benotet wird das Ganze von ihnen nach formalen und inhaltlichen Kriterien, aber eine der besten Chancen auf eine gute Note besteht, wenn die Wikipedia-Community einem Artikel die Auszeichnung "lesenswert" erteilt. Christian Vater:
    "Und ich kann Ihnen sagen, die Wikipedianerinnen und Wikipedianer bewerten strenger und härter, wenn es darum geht, zu verteidigen, dass so ein Artikel lesenswert sein soll."