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Universum
Philosophische Physik

Der Erkenntnistheoretiker Markus Gabriel und der Physiker Lawrence M. Krauss sprechen in ihren Büchern beide von Explosionen, die inmitten des Nichts stattgefunden haben. Dabei argumentieren sie aber ganz verschieden.

Von Thomas Palzer | 19.02.2014
    Für die Naturwissenschaften liegt der Moment der Schöpfung in einer winzigen Asymmetrie, die sich am Beginn der Zeit zwischen Materie und Antimaterie aufgetan hat. Diese Differenz wird sich nicht nur niemals mehr aus der Welt schaffen lassen, es ist sogar so, dass aus dieser Differenz, physikalisch betrachtet, die ganze Welt hervorgegangen ist. Wir haben es hinsichtlich der Wirklichkeit also nicht länger mit einer ontologischen Differenz zu tun, wie noch Heidegger meinte, sondern schlicht mit einer Differenz der Massen. Das ist das ganze Geheimnis. Mit dieser rechnerischen, abwägbaren Differenz wäre die Geschichte eines Universums voller Sterne und Galaxien im Wesentlichen erzählt - und damit auch unsere Geschichte. Jedenfalls in den Augen von Naturwissenschaftlern wie dem amerikanischen Kosmologen und Physiktheoretiker Laurence M. Krauss.
    "Der Wandteppich, den die Naturwissenschaft webt, wenn sie die Evolution unseres Universums darstellt, ist weit farbiger und faszinierender als alle Bilder aus Offenbarungen oder den fantasievollen Geschichten, die Menschen ausgeheckt haben. Die Natur hält Überraschungen bereit, die bei Weitem über das hinausgehen, was die menschliche Vorstellungskraft hervorbringen kann."
    Krauss gehört zu den Physikern, die gern philosophisch werden und universale Systeme begründen wollen. Er betont die Fantastik des physikalischen Universums, unterschlägt im Zuge dessen aber, dass diese auf den Volten und Purzelbäumen mathematischer Operationen beruht. Erleben kann die Erkenntnisse der modernen Physik keiner, auch nicht direkt beobachten, man kann sie lediglich erschließen und errechnen. Für das Spektakel gibt es außer Apparaturen, die ihre Ergebnisse produzieren, keine Zeugen. Zudem gibt es kein physikalisches Gesetz, das die Voraussetzungen dieses spekulativen Materialismus sicherstellt - nämlich dass die Gesetze überzeitlich sind und allerorten in einem nicht bloß geometrisch gedachten Raum gelten.
    Das aber wäre die eigentliche Frage einer Physik, die die Metaphysik ablösen will - und der Naturalismus will das: Woher kommt das rätselhafte Beharrungsvermögen der Welt, worauf gründet die Tatsache, dass sie und ihre Gesetze fortbestehen und dass dieser Fortbestand von unserer Existenz in keiner Weise berührt wird? Denn dafür gibt es keinen angebbaren Grund.
    Energie im leeren Raum
    Lawrence M. Krauss versucht in seinem Buch "Ein Universum aus Nichts ... und warum da trotzdem etwas ist" den Theologen jenen Trumpf aus der Hand zu nehmen, der sich seit Leibniz mit der Frage verknüpft, warum es etwas gibt und nicht vielmehr nichts. Und die Antwort, die der Kosmologe gibt, lautet: Aufgrund von Quantenfluktuationen. Aufgrund der Tatsache, dass es im leeren Raum Energie gibt. Physikalische Leere erweist sich wegen der Quantenphysik als brodelndes Gebräu virtueller Teilchen,
    "die in so kurzer Zeit entstehen und wieder vergehen, dass wir sie nicht direkt beobachten können."
    Das Universum ist folglich aus einer physikalischen Leere entstanden, die Krauss mit dem eigentlich meist eher ontologisch gemeinten Nichts gleichsetzt. Entweder wird der Raum aus dem Nichts geboren, oder aus dem Raum die Teilchen. Die Antwort der modernen Physik auf Leibniz Frage erweist sich bei allem Respekt als ziemlich trivial und enttäuschend - und bestätigt den Verdacht, dass die Naturwissenschaften eine Tendenz zur Trivialisierung der Wirklichkeit haben. An den Ursprung von allem Eigenschaften zu setzen, die lediglich belegen, dass eigentlich schon alles angelegt war, ist keine wirklich ernst zu nehmende Antwort auf die Frage von Leibniz und von uns anderen.
    Besser müsste man sich fragen, wie eine Theorie, die all das vernachlässigt, was die Konkretheit der Welt ausmacht - ihre gefühlte Intensität, ihre Farbigkeit, ihr Geruch - von der Gegenwart zur Theorie von allem, zu der Theorie der Wirklichkeit promoviert werden kann. Erinnern wir uns, dass der Erfolg der Naturwissenschaften im 17. Jahrhundert beginnt, als man anfängt, die Natur durchgreifend zu mathematisieren. Der Preis, den man dafür zu bezahlen hat, ist, dass die Welt durch die Auflösung in abwägbare Quantitäten ihrer sinnlichen Qualitäten beraubt wird. Und dass der Geist, das heißt alles Innenleben, aus dem physikalischen Universum ausgeschlossen bleibt. Denn nach wie vor klafft ein Abgrund zwischen dem Kosmos und dem Bewusstsein.
    Die Frage nach der Natur der Realität wird also von den Naturwissenschaften mit der Reduktion auf mathematische Zahlenverhältnisse beantwortet. Und Leibniz Frage mit der Instabilität des physikalischen Nichts.
    "Warum gibt es statt nichts überhaupt etwas? Im Grunde könnte diese Frage vielleicht nicht bedeutsamer oder tiefgründiger sein als die Frage, warum manche Blumen rot sind und andere blau."
    Zuletzt flüchtet sich Krauss in die Frage nach der möglichen Kontingenz des Universums, nach der Grundlosigkeit seiner Existenz. Was er dabei wie alle Naturwissenschaft geflissentlich übersieht, ist das Rätsel, dass das Universum prinzipiell verstanden werden kann - was, wie man leicht zugeben wird, alles andere als selbstverständlich ist. Wie kann man erwarten, dass die Realität sich von unseren Berechnungen korrekt erschließen lässt?
    Schwierige Metaphysik
    In der Gegenwart ist es jedenfalls der Naturalismus, der aufgrund von Modellen der Art, wie sie eben beschrieben wurden, für sich beansprucht, die für die Wirklichkeit plausibelste und umfassendste Theorie bereitzustellen. Geht es nach ihm, ist der Mensch ein besonders komplexer Teil der gegenständlichen, materiellen Welt und darum deren Gesetzen unterworfen. Physik und Chemie und deren Amalgame wie die Neurowissenschaften gelten diesem spekulativen Materialismus zufolge als Leitwissenschaften. Was nicht auf physikalische oder chemische Gesetze zurückgeführt werden kann, ist Metaphysik, und Metaphysik - also die Scheidung des Sinnlichen vom Nicht-Sinnlichen, des Physischen vom Nicht-Physischen und des Mentalem vom Materiellen - ist etwas, das seriöserweise gar nicht mehr geht. In den Augen von Naturwissenschaftlern wie Lawrence M. Krauss.
    In den Augen der Philosophen geht das dagegen schon. Zumindest neuerdings wieder. Zum Beispiel . Für den 33-jährigen Bonner Professor für Erkenntnistheorie besteht die Welt nicht nur aus Protonen und Elektronen, sondern zu ihr gehören auch
    Der Bonner Philosoph Markus Gabriel
    Der Bonner Philosoph Markus Gabriel (picture alliance / dpa / Roland Wittek)
    "Staaten, Träume, nicht realisierte Möglichkeiten, Kunstwerke und insbesondere auch unsere Gedanken über die Welt."
    Der Autor definiert die Welt nicht als Gesamtheit der Dinge und Tatsachen, sondern als jenen Bereich, in dem alle anderen Bereiche vorkommen. Als eine Explosion von Sinnfeldern, als ein unendlich verschachteltes und gefaltetes Gebilde. Da die Welt für Gabriel so viel größer ist als der experimentell erschließbare Gegenstandsbereich der Naturwissenschaften ist für ihn das Universum im Hinblick auf das Ganze nur eine ontologische Provinz. Gleichzeitig gibt es so etwas wie die Welt gar nicht, sehen wir in ihr eine Art Behälter, in dem alles, was es gibt, enthalten sein muss. Nach einem berühmten Theorem des Mathematikers Georg Cantor gibt es nämlich keine Menge, die sich selbst enthält, woraus folgt, dass es die Welt - verstanden als die Summe von allem - eben nicht gibt. Die Menge dessen, was existiert, ist transfinit. Die Sinnfelder, das heißt die Gegenstandsbereiche explodieren.
    "Kommen wir zu unserer ursprünglichen Verortung im Universum zurück! Wir meinten, unser Wohnzimmer befinde sich im Universum. Doch das stimmt so nicht. Denn das Universum ist bei genauerem Hinsehen lediglich der Gegenstandsbereich der Naturwissenschaften, insbesondere der Physik. Halten wir also fest: Das Universum ist primär etwas, in dem alles vorkommt, was sich experimentell mit den Methoden der Naturwissenschaften untersuchen lässt. Da die Physik so wie jede andere Wissenschaft für all das blind ist, was sie nicht untersucht, ist das Universum kleiner als das Ganze."
    Gabriel meint, dass seine Philosophie die Postmoderne ablöst und durch einen Neuen Realismus ersetzt. Der Neue Realismus geht davon aus, dass wir weder in einer Welt ohne Zuschauer leben, wie sie der Physik vorschwebt, noch in einer Welt der Zuschauer, wie sie vom Konstruktivismus und letztlich der Philosophie des Geistes behauptet wird.
    "Aber die menschliche Existenz ist weder eine kollektive Halluzination, noch stecken wir in irgendwelchen Bilderwelten oder Begriffssystemen fest, hinter denen sich die wirkliche Welt befindet. Der Neue Realismus geht vielmehr davon aus, dass wir die Welt so erkennen, wie sie an sich ist. Natürlich können wir uns täuschen, dann befinden wir uns unter Umständen in einer Illusion. Aber es stimmt einfach nicht, dass wir uns immer oder auch nur fast immer täuschen."
    Für den historischen Materialismus hat es Materie und Geschichte gegeben. Für den amerikanischen Materialismus oder Naturalismus besteht die Welt nur aus Elementarteilchen. Beides reduziert die Wirklichkeit unzulässigerweise, denn die Welt besteht aus deutlich mehr Elementen - neben Beton, Eisen und Kohlenstoff aus Literatur, Träumen, Fantastereien, Lügen, aus Sympathie und Antipathie, aus Vorlieben und Abneigungen, aus begründeten und unbegründeten Ängsten und so weiter. Für Gabriel gibt es zwar die Welt nicht, aber dafür erweist er ihren Elementen großen Respekt.
    Metaphorische Verwandtschaft
    Interessanterweise gibt es zwischen Gabriels Weltkonzeption und der Physik als Theorie von allem eine gewisse metaphorische Verwandtschaft. Spricht nämlich die Kosmologie nach dem gegenwärtigen Modell von einem Big Bang, ausgelöst von der eingangs angesprochenen Differenz der Massen, spricht der Bonner Philosoph von einer Sinnexplosion, die inmitten des Nichts stattfindet. "Warum es die Welt nicht gibt" von Markus Gabriel beziehungsweise "Ein Universum aus Nichts ... und warum da trotzdem etwas ist" von Lawrence M. Krauss sind also nicht nur vom Titel her zwei Bücher, die sich ergänzen. Salopp gesprochen, sprechen beide von Explosionen, die inmitten des Nichts stattgefunden haben. So verschieden die Autoren argumentieren, nach ihrer beider Ansicht muss die Welt beziehungsweise das Ganze als ein sich selbst tragendes perpetuuum mobile angesehen werden. Die Differenz der beiden Autoren liegt woanders. Wenn in den Seminaren zu Platon, Aristoteles und Augustinus Heidegger fragt:
    "Wo ist entschieden, dass die Natur als solche für alle Zukunft die Natur der modernen Physik bleiben muss?"
    ... dann spricht der Philosoph das grundsätzliche Misstrauen der Philosophie gegenüber einer Weltkonzeption an, die uniform und homogen ist. Wie die gegenwärtige Physik als Theorien von allem. Wir leben in keinem Rapsfeld und auch nicht in einer Wirklichkeit, die einer Fußgängerzone gleicht mit den überall gleichen Pflanzenkübeln, Schnellimbissketten und Flagship-Stores. Respekt vor den Tatsachen an sich - das kennzeichnet den Neuen Realismus. Nicht einfach alles zugunsten einer einzigen Theorie oder eines totalen Systems einsacken.
    Lawrence M. Krauss: "Ein Universum aus Nichts ... und warum da trotzdem etwas ist." Aus dem Amerikanischen von Helmut Reuter. München 2013: Albrecht Knaus, 256 Seiten, 19,99 Euro.
    Markus Gabriel: "Warum es die Welt nicht gibt." Berlin 2013: Ullstein, 272 Seiten, 18 Euro.