Ziegler: Ich habe im Auftrag der Vereinten Nationen eine Mission geleitet, die zehn Tage lang in den besetzten Gebieten - das sind 5.800 Quadratkilometer und mit 3,8 Millionen Einwohnern in Gaza und Cisjordanien – prüfte, ob das Recht auf Nahrung respektiert wird. Das wird es nicht. Die humanitäre Situation der palästinensischen Bevölkerung ist absolut katastrophal. Eine Weltbankuntersuchung, die sehr detailliert ist, gehört zu den letzten Untersuchungen, die über das Gebiet in Auftrag gegeben wurden. Ich möchte Sie nicht mit Zahlen überfluten, nur zwei, drei Zahlen aus dieser Weltbankstudie, die soeben herausgekommen ist: Das Bruttoinlandsprodukt der palästinensischen Gebiete ist um 46 Prozent eingebrochen, also fast um die Hälfte in den letzten zwei Jahren zurückgegangen. 61 Prozent aller palästinensischen Menschen - Männer, Frauen und Kinder - sind unterernährt nach der Weltbankstatistik und leben unter der Armutsgrenze. Über 80 Prozent sind vollständig von internationalen Hilfsleistungen abhängig, um zu überleben. Zum Beispiel verpflegt das Internationale Rote Kreuz in diesem uralten Bauern- und Händlerland, das eigentlich sehr reich ist, über 650.000 Menschen pro Tag. 15,6 Prozent Kinder unter fünf Jahren leiden an schwerer Anämie. Die Situation ist, was das Humanitäre angeht, absolut beunruhigend.
Wiese: Nun rechtfertigen die Israelis ihre Zwangsmaßnahmen in den besetzten Gebieten ja mit der Notwendigkeit, den Terror dort zu bekämpfen. Das ist doch eigentlich ein berechtigtes Anliegen.
Ziegler: Sie haben absolut Recht. Als ich mit der UNO-Mission unterwegs war, habe ich im Verteidigungsministerium von Tel Aviv die kompetenten Generäle getroffen, die für die Militärverwaltung der besetzten Gebiete zuständig sind, also auch für die zivilen Bereiche. Sie haben die Weltbankstudie nicht abgelehnt, sondern sie haben gesagt, den Palästinensern geht es sehr schlecht, die Zahlen kennen wir, wir bedauern das, aber das Sicherheitsbedürfnis Israels geht vor, es gibt keine andere Möglichkeit. Dieses Sicherheitsbedürfnis ist absolut legitim. Aber die Maßnahmen, die zu diesem Zusammensturz der Zivilgesellschaft geführt haben, zu dieser humanitären Katastrophe, gehen weit über die militärischen Sicherheitsmaßnahmen und über das Völkerrecht hinaus. Zum Beispiel werden ständig neue Wasserquellen umgeleitet, was zu veränderten Grundwasserspiegeln führt. Jetzt fließt über 40 Prozent des Gesamtwassers von Cisjordanien nach Israel oder in die Siedlungen. Immer wieder neu, praktisch jeden Tag wird fruchtbares Land enteignet, vor allem durch die neue Mauer, die dort gebaut wird und nicht an der grünen Linie entlang geht. Es handelt sich also um ein Problem der Kollektivstrafe gegen das palästinensische Volk. Das ist völkerrechtlich nicht annehmbar. Die Militärmaßnahmen, die Checkpoints, die Unmöglichkeit des Zirkulierens von Waren, Menschen, Versorgung von kranken Menschen und das Einschließen der 150 Städte, Dörfer und Flächen in der Westbank, gehen weit über das hinaus, was völkerrechtlich vertretbar ist.
Wiese: Die Palästinenser sind ja weitgehend von ausländischer Hilfe abhängig, Sie haben das vorhin betont. Wie verhalten sich die Israelis denn da? Verhalten sie sich kooperativ? Lassen sie Hilfslieferungen durch, oder wird da auch einiges zurückgehalten?
Ziegler: Auch darüber habe ich lange im Verteidigungsministerium von Tel Aviv diskutiert, und zwar - ich sage es noch einmal - total offen. Die Militärbehörden reden sehr offen. Sie nehmen die vierte Genfer Konvention nicht an, obschon sie unterschrieben haben. Die vierte Genfer Konvention ist das Humanitäre Völkerrecht. Dieses Völkerrechtswerk, das die Beziehung zwischen Besatzungsmacht und Besetzten regelt, verpflichtet die Besatzungsmacht generell für das Wohl des besetzten Volkes Sorge zu tragen. Da steht zum Beispiel, dass Infrastrukturen nicht angegriffen werden dürfen, es dürfen keine Gemüsefelder, Bananenfelder, Olivenhaine zerstört werden oder enteignet werden. Diese Konvention lehnen die Israelis aus juristischen Gründen ab, die man nachvollziehen könnte, die aber für die Menschenrechtskommission nicht legitim sind. Das hat sie auch so gesagt, aber die Israelis sagen, sie besetzen keinen Staat, sondern sie besetzen ein Gebiet, das von einer Befreiungsorganisation vertreten wird. Das ist ihr Argument. Tatsache ist, dass die Genfer Konvention nicht respektiert wird. Deshalb müssen die internationalen Organisationen, zum Beispiel deutsche NGOs oder die Europäische Union, die zivilen Bedürfnisse so gut es geht, mit Hilfsleistungen täglich übernehmen, und das geht natürlich nicht. Das sage ich jetzt persönlich, nicht als UNO-Sonderberichterstatter, sondern als kleiner Schweizer Bürger, als Europäer: Das ist eine total absurde Situation, und deshalb muss jetzt endlich ganz massiv internationaler Druck auf die israelischen Besatzungsbehörden ausgeübt werden, damit der Rückzug, das Ende der Besetzung erfolgt, damit die Mauer, diese Apartheid-Mauer gestoppt wird und damit endlich, wie es die Roadmap ja vorsieht, im Jahr 2005 ein lebensfähiger palästinensischer Staat mit internationalen Grenzen entsteht.
Wiese: Vielen Dank für das Gespräch.
Link: Interview als RealAudio
Wiese: Nun rechtfertigen die Israelis ihre Zwangsmaßnahmen in den besetzten Gebieten ja mit der Notwendigkeit, den Terror dort zu bekämpfen. Das ist doch eigentlich ein berechtigtes Anliegen.
Ziegler: Sie haben absolut Recht. Als ich mit der UNO-Mission unterwegs war, habe ich im Verteidigungsministerium von Tel Aviv die kompetenten Generäle getroffen, die für die Militärverwaltung der besetzten Gebiete zuständig sind, also auch für die zivilen Bereiche. Sie haben die Weltbankstudie nicht abgelehnt, sondern sie haben gesagt, den Palästinensern geht es sehr schlecht, die Zahlen kennen wir, wir bedauern das, aber das Sicherheitsbedürfnis Israels geht vor, es gibt keine andere Möglichkeit. Dieses Sicherheitsbedürfnis ist absolut legitim. Aber die Maßnahmen, die zu diesem Zusammensturz der Zivilgesellschaft geführt haben, zu dieser humanitären Katastrophe, gehen weit über die militärischen Sicherheitsmaßnahmen und über das Völkerrecht hinaus. Zum Beispiel werden ständig neue Wasserquellen umgeleitet, was zu veränderten Grundwasserspiegeln führt. Jetzt fließt über 40 Prozent des Gesamtwassers von Cisjordanien nach Israel oder in die Siedlungen. Immer wieder neu, praktisch jeden Tag wird fruchtbares Land enteignet, vor allem durch die neue Mauer, die dort gebaut wird und nicht an der grünen Linie entlang geht. Es handelt sich also um ein Problem der Kollektivstrafe gegen das palästinensische Volk. Das ist völkerrechtlich nicht annehmbar. Die Militärmaßnahmen, die Checkpoints, die Unmöglichkeit des Zirkulierens von Waren, Menschen, Versorgung von kranken Menschen und das Einschließen der 150 Städte, Dörfer und Flächen in der Westbank, gehen weit über das hinaus, was völkerrechtlich vertretbar ist.
Wiese: Die Palästinenser sind ja weitgehend von ausländischer Hilfe abhängig, Sie haben das vorhin betont. Wie verhalten sich die Israelis denn da? Verhalten sie sich kooperativ? Lassen sie Hilfslieferungen durch, oder wird da auch einiges zurückgehalten?
Ziegler: Auch darüber habe ich lange im Verteidigungsministerium von Tel Aviv diskutiert, und zwar - ich sage es noch einmal - total offen. Die Militärbehörden reden sehr offen. Sie nehmen die vierte Genfer Konvention nicht an, obschon sie unterschrieben haben. Die vierte Genfer Konvention ist das Humanitäre Völkerrecht. Dieses Völkerrechtswerk, das die Beziehung zwischen Besatzungsmacht und Besetzten regelt, verpflichtet die Besatzungsmacht generell für das Wohl des besetzten Volkes Sorge zu tragen. Da steht zum Beispiel, dass Infrastrukturen nicht angegriffen werden dürfen, es dürfen keine Gemüsefelder, Bananenfelder, Olivenhaine zerstört werden oder enteignet werden. Diese Konvention lehnen die Israelis aus juristischen Gründen ab, die man nachvollziehen könnte, die aber für die Menschenrechtskommission nicht legitim sind. Das hat sie auch so gesagt, aber die Israelis sagen, sie besetzen keinen Staat, sondern sie besetzen ein Gebiet, das von einer Befreiungsorganisation vertreten wird. Das ist ihr Argument. Tatsache ist, dass die Genfer Konvention nicht respektiert wird. Deshalb müssen die internationalen Organisationen, zum Beispiel deutsche NGOs oder die Europäische Union, die zivilen Bedürfnisse so gut es geht, mit Hilfsleistungen täglich übernehmen, und das geht natürlich nicht. Das sage ich jetzt persönlich, nicht als UNO-Sonderberichterstatter, sondern als kleiner Schweizer Bürger, als Europäer: Das ist eine total absurde Situation, und deshalb muss jetzt endlich ganz massiv internationaler Druck auf die israelischen Besatzungsbehörden ausgeübt werden, damit der Rückzug, das Ende der Besetzung erfolgt, damit die Mauer, diese Apartheid-Mauer gestoppt wird und damit endlich, wie es die Roadmap ja vorsieht, im Jahr 2005 ein lebensfähiger palästinensischer Staat mit internationalen Grenzen entsteht.
Wiese: Vielen Dank für das Gespräch.
Link: Interview als RealAudio