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"Unser Prinzip ist die Offenheit"

Der deutsche EU-Kommissar Günter Verheugen hat vor Schnellschüssen nach der Ablehnung des EU-Reformvertrags in Irland gewarnt. In einem demokratischen System wie der EU müsse man die Entscheidung der Iren respektieren und zunächst in Erfahrung bringen, was sie anders machen wollten, sagte Verheugen.

Moderation: Christoph Heinemann |
    Christoph Heinemann: Nach dem Nein der Iren zum Europäischen Reformvertrag ist guter Rat teuer. Am Montag treffen sich die Außenminister der Europäischen Union, wie gerade eben in Frank-Walter Steinmeiers Stellungnahme gehört. Donnerstag und Freitag kommen die Staats- und Regierungschefs zusammen, um die Scherben zusammenzukehren. Für den irischen Regierungschef Brian Cowen wird die Reise nach Brüssel kein besonders angenehmer Gang. Der Lissabonner Vertrag sieht mehrere Neuerungen vor, ein neues Abstimmungsverfahren im Ministerrat mit häufigeren Mehrheitsentscheidungen, eine Stärkung der nationalen Parlamente, die Schaffung eines EU-Außenministers mit eigenem diplomatischen Dienst sowie die Schaffung eines Präsidenten des Europäischen Rates. Schnee von gestern? Am Telefon ist Günter Verheugen, der stellvertretende Präsident der Europäischen Kommission, Kommissar für Unternehmen und Industrie. Guten Morgen.

    Günter Verheugen: Morgen.

    Heinemann: Was nun, Herr Verheugen?

    Verheugen: Wir können nichts anderes tun, als das, was gerade der deutsche Außenminister schon gesagt hat, uns zusammensetzen und ernsthaft und gründlich darüber reden, wie es weitergehen soll. Wir haben nicht eine Institution, die sagt, wo es jetzt langgeht. Mein Eindruck ist nach den ersten Reaktionen aus den Hauptstädten, dass eine feste Entschlossenheit da ist, die Reformziele nicht aufzugeben. Und das ist auch richtig, denn wir können so auf Dauer nicht weitermachen. Durch das Nein in Irland sind die Probleme ja nicht gelöst.

    Heinemann: Es gibt die Formel "Opting Out", das heißt, die anderen ratifizieren weiter und für Irland bleibt der Vertrag dann eben nicht gültig. Jean-Claude Juncker hat uns vor einer Stunde gesagt, das wäre juristisch sehr schwierig. Wie sehen Sie das?

    Verheugen: Es ist nicht nur juristisch sehr schwierig. Es ist auch politisch fast unmöglich, denn es handelt sich ja hier um einen Vertrag, bei dem die Spielregeln geändert werden. Es ist ja nicht ein Vertrag, der eine neue Politik schafft oder neue Ziele setzt. Es geht schlicht und einfach darum, die Institutionen anzupassen, Entscheidungen zu vereinfachen, mehr Demokratie. Das ist sozusagen die Hausordnung, und die Hausordnung muss für alle gelten. Da kann man nicht sagen, für einen gilt sie nicht. Man muss sich das auch immer praktisch vorstellen, wir hätten einen EU-Präsidenten, der aber nicht für Irland spricht, und wir hätten einen Außenminister, der Irland nicht vertreten kann, oder wir hätten Mehrheitsentscheidungen, bei denen Irland nicht mitwirken muss. Dann hätten wir eben keine Mehrheitsentscheidung. Also das glaube ich nicht, dass ein Vertrag, bei dem Irland sozusagen ausgenommen wird, eine Lösung wäre. Nein, wir müssen schon etwas ernsthafter an die Sache herangehen. Und vor allen Dingen müssen wir hören, da bin ich sehr gespannt, was die Iren denn eigentlich anders haben möchten. Wir haben im Moment ja nur ein Nein. Was wir aber nicht haben, ist eine Antwort auf die Frage, wie es denn besser gemacht werden könnte.

    Heinemann: Heißt das, Herr Verheugen, dass man im Vertrag noch Veränderungen vornehmen könnte?

    Verheugen: Das kann man immer, aber die Frage ist ja, welche? Das ist ja bereits der zweite Versuch. Wir hatten ja die gescheiterte Verfassung, daraus hatten wir die Konsequenzen gezogen, ist dem Bedenken insbesondere der kleineren Mitgliedsländer, auch Irlands, entgegen gekommen. Und die Iren waren ja auch der Meinung, die irische Regierung, der Vertrag ist gut für unser Land, sie hat ihn unterzeichnet und hat dafür geworben zuzustimmen. Mir ist noch nicht ganz klar, was wirklich alles hinter dem Nein steckt. Ich würde jedenfalls die These nicht teilen, dass mit dem Nein in einem einzigen Land der europäische Integrationsprozess abgelehnt ist. Ich finde die These, die wir im Eingang gehört haben, damit ist die europäische Integration in Frage gestellt, weit, weit überzogen. Was in Frage gestellt ist, ist das Funktionieren der Reformen, auf die wir uns geeinigt hatten. Aber ich sage noch einmal: Wir brauchen diese Reformen, und zwar, um unsere Arbeit tun zu können. Niemand bezweifelt ja, dass wir die Europäische Einigung brauchen, damit Europa auch im 21. Jahrhundert so leben kann, wie es will.

    Heinemann: Nun sind die Reformen ohne ein irisches Ja nicht möglich. Was hielten Sie von dem Vorschlag eines neuen Referendums? Das gab es ja schon mal in Irland.

    Verheugen: Ich finde, man sollte den Iren da nicht reinreden. Es ist ihnen vielleicht auch während der Kampagne in Irland ein bisschen zu viel reingeredet worden. Das müssen sie selber entscheiden. Ich glaube aber, dass es schwierig werden wird, eine solche Zustimmung zu finden, weil wir ja das Beispiel der gescheiterten Referenden in Frankreich und in den Niederlanden hatten beim Verfassungsvertrag. Da hat ja auch keiner gesagt: Hinsetzen und noch mal machen. Eine demokratische Entscheidung muss wohl respektiert werden. Das entspricht ja auch dem demokratischen Grundcharakter der Union, die eben nicht ein Zentralstaat ist, sondern ein Zusammenschluss von Staaten, der gegründet ist auf der Idee der Gleichheit, der Freiheit und der Souveränität der Mitgliedsstaaten. Und da kann so etwas passieren. Das ist in einem demokratischen System unvermeidlich.

    Heinemann: Herr Verheugen, Sie haben uns jetzt erklärt und begründet, was alles nicht funktioniert oder wie man jetzt nicht aus der Krise herauskommt. Was bleibt denn dann übrig?

    Verheugen: Es gibt keinen anderen Weg, als gemeinsam einen Ausweg aus dem Problem zu lösen, das uns da in Irland gestern geschaffen worden ist.

    Heinemann: Wie sieht der aus?

    Verheugen: Jeder Schnellschuss im Augenblick kann nur zu weiteren Problemen führen, sondern es ist wirklich notwendig, mit kühlem Kopf und mit dem festen Willen aus dieser Schwierigkeit herauszukommen, miteinander zu beraten. Aber jetzt, heute schon zu sagen, das machen wir so, das machen wir so, das ist, wenn sie es mit 27 verschiedenen Staaten zu tun haben, die alle ihren eigenen Willen und ihre eigenen Interessen haben, schlicht und einfach nicht möglich und wäre falsch.

    Heinemann: Warum gibt es in der EU eigentlich nie einen Plan B? Da ist doch die Katerstimmung Programm.

    Verheugen: Das war der Plan B.

    Heinemann: Was war der Plan B?

    Verheugen: Das war der Plan B. Dieser Vertrag war der Plan B. Ausgegangen war man von dem Versuch einer europäischen Verfassung. Das ist nicht gelungen. Und das, was jetzt in Irland zur Abstimmung stand, war der Plan B.

    Heinemann: Herr Verheugen, Reformen sind nicht in Sicht, sagen Sie. Was bedeutet das für die Erweiterung, etwa auch für die Verhandlung mit der Türkei?

    Verheugen: Die Verhandlungen mit der Türkei sind ein sehr langfristiges Projekt, und ich sehe zunächst nicht, dass sie davon betroffen sind, zumal diese Frage bei dem Referendum in Irland auch überhaupt keine Rolle gespielt hat.

    Heinemann: Sollte man den notorischen Neinsagern irgendwann mal den Stuhl vor die Tür setzen?

    Verheugen: Das kann man nicht.

    Heinemann: Sollte?

    Verheugen: Eine Möglichkeit ist nicht vorgesehen, und ich bin auch nicht der Meinung, dass es angemessen wäre, ein Volk zu bestrafen, wenn es von seinem Recht Gebrauch gemacht hat, in einem demokratischen System auch einmal Nein zu sagen. Ich glaube nicht, dass das eine vernünftige Lösung ist. Ich glaube auch nicht, dass wir gut beraten wären, irgendwen aus Europa ausschließen zu wollen. Unser Prinzip ist das genaue Gegenteil. Unser Prinzip ist die Offenheit. Da sollen diejenigen dabei sein können, die dabei sein wollen.