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"Unsere Demokratie muss verteidigt werden"

Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) hat die Proteste gegen einen rechten "Anti-Islamisierungskongress" am Samstag in Köln gewürdigt. Die Demokratie könne nicht nur vom Staat, sondern müsse auch durch die Bürger verteidigt werden. Thierse rief die Bürger Brandenburgs auf, zur Kommunalwahl am 28. September ebenfalls ein sichtbares Zeichen gegen Rechtsextremismus zu setzen.

Wolfgang Thierse im Gespräch mit Bettina Klein | 22.09.2008
    Bettina Klein: "Die Kölnerinnen und Kölner wollen diese Kundgebung nicht", sagte Oberbürgermeister Schramma gestern, und es ist ihnen gelungen, die Kundgebung, zu der Pro Köln Rechtspopulisten aus ganz Europa eingeladen hatte, zu verhindern. Die Polizei sah sich nicht in der Lage, diese Demonstration zu sichern, und hat sie deshalb kurzerhand abgesagt. Die Stadt feiert dies als einen Erfolg. Ein Thema gleich im Gespräch mit Wolfgang Thierse, Vizepräsident des Deutschen Bundestages und Sozialdemokrat. Guten Morgen, Herr Thierse.

    Wolfgang Thierse: Guten Morgen, Frau Klein.

    Klein: Ich argumentiere jetzt mal rein formal. Wenn es einer erkläglichen Anzahl von Bürgern gelingt, eine genehmigte Demonstration zu verhindern, ist das nur ein Grund zum Feiern?

    Thierse: Es kommt schon auf die Art der Demonstration auch an. Ich finde ja den Vorgang deshalb von manchen Einzelheiten, die ich aus der Ferne nicht beurteilen kann, sympathisch, weil daran wieder sichtbar wird, unsere Demokratie muss verteidigt werden nicht nur von denen da oben, den Politikern oder von Staatswegen, von Polizei und Justiz, sondern es sind die Bürger selber, die ihre Demokratie verteidigen, ihre Straßen, ihre Plätze, ihre Städte, gegen rechtsextremistische Inanspruchnahme. Und dass das in Köln gelungen ist, ist, denke ich, ein Vorgang, der mir die Stadt und ihre Bürger noch sympathischer macht, als sie ohnehin schon waren.

    Klein: Ich frage jetzt mal provokativ. Man stelle sich die umgekehrte Variante vor: Eine Bewegung zur Unterstützung einer multikulturellen Gesellschaft wird von einer Mehrheit der Bürger, die eine andere Meinung vertreten, am Demonstrieren gehindert. Das würde vermutlich gar nicht gut ankommen, wäre aber juristisch gesehen das gleiche, oder?

    Thierse: Ja, aber man kann eben in der Politik und in der Demokratie nicht nur formaljuristisch argumentieren, sondern es geht schon darum, welches Anliegen welche Gruppierung vertritt, ob es dem friedlichen Zusammenleben der Gesellschaft dient, oder ob es stört, welche historische Erfahrung, welche historischen Erinnerungen wir mit welcher Art von Anliegen welcher politischen Position haben. Und dass ein Teil der Bürger Kölns der Überzeugung war, wir wollen unsere Stadt schützen vor der Versammlung rechtsextremistischer, rechtspopulistischer Leute aus ganz Europa, das, denke ich, macht einen Unterschied aus gegenüber einem Anliegen, das sagt, wir wollen doch dafür demonstrieren, dass Menschen mit unterschiedlicher Kultur, unterschiedlicher Religion, unterschiedlicher Auffassung friedlich zusammenleben. Das eine haben wir, denke ich, vernünftigerweise positiv zu bewerten, das andere richtigerweise als eine Gefahr für unser Zusammenleben.

    Klein: Wenn viele Fragen im Zusammenhang mit Einwanderung und Integration zu besprechen sind, die über Jahre vielleicht nicht offen genug thematisiert wurden, in dieser Beziehung sind wir mit den Grabenkämpfen und den Gut-Böse-Konstellationen am Wochenende allerdings nicht viel weiter gekommen oder doch?

    Thierse: Natürlich glaube ich, dass man sich nicht dabei beruhigen darf, es ist eine Demonstration verhindert worden. Ich habe etwas dagegen, dass man meint, schwierige Probleme im Zusammenleben gewissermaßen auf einen Schlag lösen zu können. Politik ist nicht für Erlösung zuständig, sondern für die jeweils bessere Lösung konkreter Probleme. Dazu gehört: Man muss diese Probleme aussprechen, man muss sie ernst nehmen, man muss auch Ängste ernst nehmen. Man muss Vorurteile zur Kenntnis nehmen, um an ihnen zu arbeiten. Das heißt natürlich Verbreitung von Wissen, Probleme erklären, sie angehen, über ihre Lösungen sprechen, nicht mit falschen Versprechungen, nicht die leichtsinnigen Erwartungen über schnelle Lösungen schwieriger Probleme zu erwecken.

    Klein: Wenn das Verhalten der Kölner so vorbildlich war, ist es denn auch nach Ihrem Eindruck repräsentativ für andere Städte und Regionen Deutschlands, in denen Rechte oder rechtspopulistische Parteien versuchen, an die Öffentlichkeit zu gehen?

    Thierse: Noch nicht mal in Köln ist ja alles wunderbar. Immerhin hat diese Gruppierung Pro Köln ja bei Wahlergebnissen einen Erfolg erzielt und insgesamt in Deutschland können wir doch sehen, dass rechtsextremistische Parteien bei Wahlen erfolgreich sind. Das galt für Baden-Württemberg vor Jahrzehnten, in Köln jetzt, aber es gilt vor allem auch in Sachsen, in Brandenburg, wo die NPD ziemlich erfolgreich war, zwischen 5 und 10 Prozent bekommen hat. Also wir haben da ein Problem im Lande. Das hat schon zu tun mit der Dramatik von Veränderungen der letzten 10, 20 Jahre und von Veränderungen, in denen wir mitten stecken. Wir sehen doch: je größer Probleme sind, je mehr Menschen sozial verunsichert sind, Zukunftsängste haben, umso mehr stärkt das ihr Vereinfachungs-, ja ihr Erlösungsbedürfnis und sie wünschen sich die einfachen klaren flotten Antworten und die werden immer am besten gegeben, wenn man ein Feindbild konstruiert. Das kennen wir aus der deutschen Geschichte. Zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise, der Inflation, der Massenarbeitslosigkeit war es eben erfolgreich zu sagen, der Jude ist an allem Schuld. Und heute dient dazu der Ausländer. Die Ausländer sind an allem Schuld. Also: je größer die Probleme, je größer Ängste und Verunsicherung sind, umso stärker das Bedürfnis nach einfachen Antworten und nach Erlösung. Das ist immer eine gefährliche Situation für Politik.

    Klein: Wir schauen jetzt auf den Sonntag, auch nach Brandenburg. Bei den Kommunalwahlen dort befürchten die anderen Parteien ein starkes Abschneiden der NPD. Können Sie sich solche Massenveranstaltungen wie gestern und vorgestern in Köln auch in Frankfurt/Oder oder in Cottbus vorstellen?

    Thierse: Das sind jedenfalls kleinere Städte. Da gibt es nicht so viele Massen. Es wäre schon gut, wenn auch dort die demokratischen Bürger sichtbar machen würden, dass sie diese Gefahr ernst nehmen, erkennen. Entscheidend ist aber: Wir haben nun mal das demokratische Instrument der Wahl, dass möglichst viele Bürger zur Wahl gehen und ihre Enttäuschung, die es immer gibt, ihre Kritik an den politischen Parteien nicht dadurch zum Ausdruck bringen, dass sie entweder rechtsextremistisch wählen oder sagen, das hat ja alles keinen Zweck. Je geringer die Wahlbeteiligung - das wissen wir, das ist eine einfache Rechnung -, umso stärker die Chancen für extremistische Positionen.

    Klein: Sie haben es gerade noch mal angedeutet. Zeiten der Angst sind erfahrungsgemäß in der Politik Zeiten auch der Suche nach den einfachen Antworten. Wenn der Kapitalismus der Gestalt in die nächste Krise gerät, wie wir das vielleicht gerade an den Finanzmärkten sehen, dann werden diejenigen, die diese Gesellschaftsordnung anprangern, lauthals anprangern, gefragter sein denn je und das gilt auch für die linke Seite des politischen Spektrums.

    Thierse: Das ist so und ganz ruhig füge ich hinzu: Das was da in den USA vor allem passiert, ist ja auch kritikwürdig. Und wir müssen darüber streiten, was genau kritisiert werden muss. Geht es um das System insgesamt, oder geht es um Auswüchse im Kapitalismus? Welche Art von Kapitalismus ist da in eine Krise geraten und muss auch verändert werden? Ich glaube, ideologische Vereinfachungen sind auch hier falsch. Zum Glück haben wir noch in Europa trotz aller Fehlentwicklung eine andere Art von Kapitalismus, einen sozialstaatlich gezähmten, relativ gezähmten Kapitalismus, nicht jenen Raubtierkapitalismus, von dem Helmut Schmidt richtiger- und zutreffenderweise spricht. Also geht es darum, dass es in den nächsten Jahren gelingen muss, Regeln dafür zu formulieren, dass der Finanzkapitalismus, die Finanzwirtschaft nicht die Realwirtschaft kaputt macht, dass der Trend, möglichst schnell möglichst riesige Gewinne zu machen, Arbeitsplätze und die Realwirtschaft wirklich zerstört. Das ist jetzt eine der wichtigsten Aufgaben, die nicht national zu lösen ist, aber da müssen die Europäer vorangehen und ich hoffe, in den USA, auch in England ist inzwischen ein Bewusstsein davon, wie gefährlich diese Art von sogenanntem liberalem Kapitalismus ist.

    Klein: Aber Sie rechnen schon auch damit, dass das Wasser auf die Mühlen der Linkspartei sein wird, frage ich jetzt mal, denn wenn eine christdemokratische Kanzlerin schon den zügellosen Markt anprangert, wer soll da eigentlich noch dagegen halten?

    Thierse: Ja. Man kann ja auch nicht gegen den zügellosen Markt dagegenhalten, jedenfalls nicht gegen die Einschätzung, dass es so sei. Das würde ja der Wahrnehmung der meisten Menschen und auch den Analysen widersprechen, die uns vorliegen. Die Frage ist nur, ob man darauf reagieren sollte mit der Verheißung eines ganz anderen Systems, einer Erlösung, die sich nicht den wirklichen Problemen widmet. Das ist dann der Unterschied. Regeln für die Finanzwirtschaft zu finden, globale Regeln, das ist nun die Aufgabe, ich glaube nicht die Verkündigung eines nun alternativen Systems, nachdem wir gerade eines haben scheitern sehen vor 20 Jahren.

    Klein: Wolfgang Thierse, Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Danke Ihnen für das Gespräch, Herr Thierse.

    Thierse: Auf Wiederhören, Frau Klein.