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Unsichtbare Welten. Von der Schönheit des Mikrokosmos

Der Blick schweift über einen Hügel aus sanft sich aneinander schmiegenden Noppen, über eine graue Kraterlandschaft, aus deren Senken sich kleine Stile, gleich den Antennen unterirdischer Meldestationen erheben. Und wie im virtuellen Flug streift er weiter an bizarren Felsformationen entlang, gleitet zwischen den Verstrebungen eines filigranen Sternes hindurch, und versenkt sich schließlich ins Nichts eines unergründlich schwarzen Lochs. Von Seite zu Seite eröffnen sich dem Auge des Betrachters von France Bourélys neuem Bildband "Unsichtbare Welten" faszinierende Ausschnitte aus dem Reich des Mikrokosmos, den wir – dank des herkömmlichen Biologieunterrichts - in unserer Vorstellung eher mit unappetitlichen Kleinstlebewesen verbinden, mit Glimmerhärchen, wabernden Zellen und solchen Geißeln der Menschheit wie dem 50.000fach vergrößerten Erreger der Kinderlähmung.

Martina Wehlte-Höschele | 11.12.2002
    Das Lehrbuchwissen, das sich auf Fakten-Sammeln und rein funktionales Denken beschränkt, hatte auch France Bourélys Blick durchs Mikroskop bestimmt, ganz so wie das Auge ja nur das optische Rohmaterial liefert, aus dem das Gehirn dann sein Bild selektiert. Den Anstoß zu einem wahrhaft neuen, schöpferischen Sehen erhielt sie während eines Aufenthalts an der Universität Berkeley durch die Kurse des Botanikers Don Kaplan. Heute kann die promovierte Pharmazeutin als Wegbereiterin einer kontemplativen Biologie gelten, deren Anliegen es ist, über den sprichwörtlichen Reichtum der Natur, über die vorgefundenen Erscheinungsformen um ihrer selbst willen zu reflektieren und so zu neuen Erkenntnissen vor allem aber zu neuen Wertungen zu kommen.

    Bourély, die gerade Mal in der Mitte ihrer Forschungslaufbahn steht, wurde sowohl für ihre herausragenden naturwissenschaftlichen Leistungen als auch – mit dem Leitz-Leica-Preis – für ihre fotografische Arbeit ausgezeichnet. Was sie uns in dem nun vorliegenden Band zeigt, sind fossile einander liebkosende Mikroorganismen des Plankton, das Hervorbrechen – sie nennt es mit Bedacht ‚Geburt’ – von Zeolithkristallen, die Sinneshärchen am Kopf einer Wespe, die Klauen eines Mistkäfers, verschiedene Pollen und Blütenblätter, das Staubblatt – sie spricht ausdrücklich vom ‚männlichen Geschlechtsorgan’ – einer Erdbeerbaumblüte und das elegante Profil der Tsetsefliege: überwiegend Insekten und Pflanzen, die seit Jahrmillionen in perfekter Symbiose miteinander werden und vergehen. Es sind Kunstwerke der Natur, konservierte Momentaufnahmen des fortwährenden Schöpfungsaktes, sich ewig reproduzierendes Leben. Manches könnte ein surrealistischer Maler entworfen haben, anderes erinnert an Mondlandschaften und Aufnahmen von noch unbekannten Gestirnen.

    Und tatsächlich zieht France Bourély den Vergleich zwischen den optischen Exkursionen ins All und in die unserer Sinneswahrnehmung normalerweise verschlossene Welt der Natur, sei es auf Madagaskar oder auf der heimischen Wiese. Die poetischen, manchmal auch pathetischen Titel ihrer Abbildungen stellen einen Bezug zwischen dem Blick durchs Teleskop und demjenigen durch das Rasterelektronenmikroskop her, dessen dreihundert- bis zehntausendfacher Vergrößerungsmaßstab in den schwarz-weißen Abbildungen des Bandes immer nur Ausschnitte des betrachteten Objekts ihrer visuellen Begierde erlaubt. Dass sie in die unsichtbaren –weil für unser Auge zu kleinen- Welten mit Leidenschaft, wissenschaftlicher Neugier und emotionaler Hingabe vorstößt, verraten nicht nur ihre hervorragenden Aufnahmen, die sie mit viel Sinn für Ästhetik und dramatische Wirkung arrangiert hat, sondern auch ihr gelegentlich allzu überschwänglicher Text, in dem sie ihre mikroskopischen Erkundungsreisen mit den Unternehmungen Magellans oder den Exkursionen Amundsens vergleicht.

    Doch es bedarf wohl eines solchen Enthusiasmus, um über den optischen Genuss, die pure Anschauung hinaus den naturphilosophischen und naturwissenschaftlich revolutionären Ansatz, den sie verfolgt, überhaupt zu Gehör zu bringen. Nicht der Mensch mit seinen begrenzten Wahrnehmungsmöglichkeiten sei das Maß aller Dinge! Um ihn herum und von ihm unbemerkt führen unendlich viele Lebewesen ein perfekt ausgeklügeltes Dasein, das – und France Bourély bringt hier eine bewusst weibliche Perspektive ein – auf Schönheit und Fruchtbarkeit ausgerichtet ist; das Gesetzmäßigkeiten folgt, die es für den Menschen erst in ihrer Komplexität zu verstehen gilt, bevor er eigenmächtig in sie eingreift (ein leiser Kommentar auf die Gentechnik). Denn wie unwissend sind wir – nicht nur angesichts der Unendlichkeit des Makrokosmos sondern auch des Mikrokosmos, die uns doch immer aufs Neue das Staunen lehren, wie France Bourély mit ihrer sehr persönlichen Sammlung von Erinnerungen, von Momenten der Verzauberung in der Abgeschiedenheit des Labors zeigt. Denn, mit ihren eigenen Worten:8

    Wenn wir die Grenzen unserer natürlichen Sinneswahrnehmung überschreiten, gelangen wir in eine Welt, die von einer bewundernswerten Intelligenz geprägt ist und in der Lebensformen, wie mikroskopisch klein sie auch sein mögen, eine fantastische Harmonie und ästhetische Virtuosität an den Tag legen.

    Mit dem vorliegenden Band ist es ihr gelungen, uns hierfür die Augen zu öffnen.