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Unter den Rebellen gibt es "ethnische und ideologische Bruchlinien"

Zieht in Libyen jetzt westliche Demokratie ein? Nach den Erfahrungen in Afghanistan und im Irak sollte man mit dieser Vorstellung zurückhaltend sein, sagt Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Erschwert werde der Transformationsprozess auch durch Differenzen unter den Rebellen.

23.08.2011
    Peter Kapern: Die Ereignisse überschlagen sich und halten nach wie vor überraschende Volten bereit. Gaddafi ist am Ende, wenn auch nach wie vor irgendwo in Tripolis versteckt. Mindestens zwei seiner Söhne, darunter der lange als Nachfolger gehandelte Saif al-Islam, sind in der Hand der Rebellen, die Vorbereitungen zur Auslieferung an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag laufen. Das war die Nachrichtenlage gestern am späten Abend. Und plötzlich, kurz nach Mitternacht, laufen Meldungen über den Ticker, wonach eben jener Saif al-Islam Gaddafi gerade in ein Hotel in Tripolis marschiert sei, in dem viele Journalisten untergebracht sind, und schöne Grüße von seinem Vater bestellt hat.

    "Dies ist nicht unsere Revolution, aber wir können stolz darauf sein, dass wir unseren Teil dazu beigetragen haben", so der britische Premier David Cameron gestern, als klar wurde, dass die Stunden Muammar al-Gaddafis an der Spitze Libyens offenbar gezählt sein würden. Anders als Deutschland hat sich Großbritannien massiv an der Umsetzung der UN-Resolution zum Schutz der libyschen Zivilbevölkerung beteiligt. Kein Wunder also, dass Cameron gestern auf Britanniens Beitrag zur Befreiung des nordafrikanischen Landes hinwies.

    Tunesien, Ägypten, jetzt mutmaßlich Libyen – die Diktatorendämmerung in Nordafrika hält an. Gleichwohl lassen sich all diese Länder nicht über einen Kamm scheren. Libyen zum Beispiel wird ganz überwiegend durch seine Stammesstruktur geprägt. Wie wichtig das ist zeigt folgendes: Erst als auch die letzten Stämme Muammar al-Gaddafi fallen ließen, war wirklich das Ende des Despoten gekommen. Diese Stammesstruktur wird allerdings auch den libyschen Neuanfang prägen.

    Mein Kollege Matthias von Hellfeld hat gestern Abend mit Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik gesprochen und ihn zunächst danach gefragt, welche Gruppierungen und Fraktionen überhaupt die Opposition derzeit vereint.

    Markus Kaim: Also ich glaube, man muss sich vergegenwärtigen, was wir im Moment als Rebellen beschreiben, oder den Übergangsrat, das ist im Moment eine Zweckgemeinschaft, eine sehr heterogene Zweckgemeinschaft von politischen Akteuren, die wahrscheinlich nicht viel mehr miteinander verbindet als der Wunsch, das Regime Gaddafi zu stürzen, und die internen Differenzen, die sind jetzt im Moment eher zu erahnen, aber sie werden umso deutlicher hervortreten, sobald der Übergangsrat den Sieg errungen hat – das ist wahrscheinlich eine Frage von Tagen - und dann ein politischer Übergangsprozess eingeleitet wird, in dessen Verlauf dann politische Parteien sich formieren werden, und diese ethnischen und ideologischen Bruchlinien, die im Moment noch überlagert sind, deutlich hervortreten werden. Ich glaube, dann werden wir erst deutlich erkennen, was für eine heterogene Gruppe dieser Übergangsrat überhaupt erst gewesen ist.

    Matthias von Hellfeld: Libyen ist nach Ägypten und Tunesien der dritte Staat, der von einem Umbruch betroffen ist. Syrien, so scheint es jedenfalls, könnte der vierte Staat werden. Ist der Norden Afrikas und der Teil des Nahen Ostens nicht derzeit ein Pulverfass, das auch für Europa gefährlich werden könnte?

    Kaim: Im Moment nicht, kann ich das nicht erkennen. Auch beim Falle Syriens bin ich anderer Meinung, weil ich glaube, das darf man nicht unterschätzen, dass diese Revolution jetzt in Libyen ohne die Unterstützung externer Akteure, konkret der NATO, seit gut fünf Monaten so nicht möglich gewesen wäre, und das ist im Falle Syriens ja nicht der Fall, zumindest aus heutiger Sicht der Dinge, da wir keine Resolution des UN-Sicherheitsrates, die einen militärischen Einsatz legitimierte, für Syrien in Sicht haben. Und gleichzeitig stellt man fest, dass zwar diese Revolutionen in Nordafrika innenpolitische Systeme hinweggefegt haben, letztlich aber die Bruchlinien zwischen den Staaten, die es ja zum Teil auch gibt, überhaupt nicht tangiert hat. Das heißt, diese innenpolitischen Umsturzprozesse haben in keinster Weise die zwischenstaatlichen Beziehungen beeinträchtigt. Im Gegenteil: in Fragen zwischenstaatlicher Konflikte sind diese Staaten eigentlich relativ unberührt gewesen und es herrscht in Fragen der internationalen Sicherheit immer noch eine vergleichsweise Stabilität.

    von Hellfeld: Schwenken wir dann mal unseren Interessensblick ein wenig weg von Libyen und richten ihn auf Ägypten und Tunesien. Da sind die Umstürze schon einige Monate her. Wie steht es da um den Aufbau der nachrevolutionären Gesellschaftsordnung, sage ich jetzt mal?

    Kaim: Also es zeichnet sich immer stärker das ab, was eigentlich unmittelbar nach den Revolutionen bereits zu ahnen war. Es ist vergleichsweise einfach, ein System zu entfernen, vergleichsweise einfach, aber umso schwieriger ist die Phase danach, wenn es um diese permanente Transformation dieser Systeme geht. Wir haben zumindest in Ägypten einen Zustand, der aus westlicher Sicht nicht ganz befriedigend ist, nämlich mit dieser sehr, sehr starken Stellung des Militärs in der ägyptischen Verfassung und auch im Verfassungsgebungsprozess, der sich jetzt abzeichnet, also etwas, das wir aus westlicher Sicht eigentlich so nicht begrüßen können und wir uns im Januar auch nicht so recht vorstellen konnten, wo ja eine Ordnungsvorstellung dominiert hat, wo Zivilgesellschaft und die Parteien im Rahmen des Verfassungsgebungsprozesses und dann mit Wahlen, die ja in absehbarer Zeit kommen werden, jetzt im September, die Macht übernehmen werden.

    Das heißt, wir haben hier so eine bizarre Mischung von Restelementen des alten Systems und einer nahezu eingefrorenen Transformationsbewegung. Wohin das Pendel letztlich ausschlagen wird und in welche Richtung sich diese Systeme transformieren werden, wenn wir denn die Verfassung endlich haben, wenn wir denn die ersten Parlamentswahlen haben, das bleibt aber noch mal abzuwarten. Aber tatsächlich mit unseren westlichen Ordnungsvorstellungen ist das zumindest bislang noch nicht so kompatibel.

    von Hellfeld: So ein Transformationsprozess steht ja jetzt möglicherweise Libyen auch bevor. Guido Westerwelle und Kanzlerin Angela Merkel haben von demokratischen Strukturen gesprochen, die das Land nun brauchen würde. Glauben Sie, dass das wirklich das ist, was Libyen jetzt braucht? Geht das in dem Teil der Welt, sozusagen Demokratie einzupflanzen?

    Kaim: Also ich glaube, wir sollten etwas zurückhaltend sein nach den ernüchternden Erfahrungen in Afghanistan und den ernüchternden Erfahrungen im Irak bezüglich der Frage, ob westliche Demokratien exportierbar sind. Wir werden uns sicher darauf einrichten können, dass bestimmte formale Elemente von Demokratien in den nächsten Monaten auch in Libyen Einzug halten werden. Ich habe es ja eben bereits angedeutet: es soll eine verfassungsgebende Versammlung geben, an deren Ende eine Verfassung verabschiedet wird, es wird sicherlich in absehbarer Zeit Wahlen geben.

    Aber viele konkrete Fragen zur Ausgestaltung des politischen Systems, wie die Parteien sich formieren können, in welchem Maße der Staat dezentral oder zentral organisiert wird, das ist ja alles noch nicht in Konturen erkennbar, und wahrscheinlich müssen wir uns darauf einrichten, dass es im Endergebnis eine Mischform sein wird von formeller Demokratie, die uns aus westlicher Sicht zufriedenstellt, aber in der konkreten Ausgestaltung wird es sicherlich Elemente geben, die wir mindestens befremdlich finden, oder die wir sogar zurückweisen werden, also etwas Ähnliches wie im Irak oder in Afghanistan.

    von Hellfeld: Zum Schluss noch mal einen Blick doch noch mal nach Syrien. Denken Sie, dass Präsident Assad beeindruckt ist von den Dingen, die da heute in Libyen stattgefunden haben?

    Kaim: Das kann ich nicht beurteilen, dafür müsste ich in seinen Kopf gucken können. Ich glaube, er kann sich in deutlich größerer Sicherheit wiegen, denn auch wenn die beiden Fälle nicht miteinander verbunden sind, ist doch, glaube ich, ein Ergebnis der Libyen-Krise, dass Russland und China deutlich gemacht haben, dass sie eine entsprechende Resolution, oder eine vergleichbare Resolution im VN-Sicherheitsrat nicht passieren lassen werden. Von daher kann er sich gerade angesichts der Libyen-Krise, oder durch die Libyen-Krise sicherer im Sattel fühlen als je zuvor.

    Kapern: Markus Kaim, der Nahost-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik, im Gespräch mit meinem Kollegen Matthias von Hellfeld.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.