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Unter Quallen
Begegnung mit dem Schwarm

Lange galten sie als unnütze Salzwassersäcke. Dann häuften sich die Zwischenfälle: Quallen verstopften die Kühlwasserzuflüsse von Kraftwerken, rissen Boote in die Tiefe und wüteten auf Lachsfarmen. Für die Quallenforschung floss plötzlich Geld und es wurde klar: Quallen nehmen wichtige Positionen in den Weltmeeren ein.

Von Dagmar Röhrlich | 03.06.2018
Quallen in der Haichang Polar Ocean World in Tianjin im Norden Chinas.
Manche Quallen leben allein, andere sammeln sich zu gigantischen Schwärmen - die scheinen weltweit zuzunehmen (imago / Li Ang)
Der Loro Parque auf Teneriffa. Mehr als 40 Millionen Besucher soll der Tierpark jährlich anziehen. Mitten im Grün, hinter den Keas, versteckt sich ein Pavillon. Von außen wirkt er unauffällig. Doch wer diesen dunklen Raum betritt, in dem nur die Aquarien leuchten, ist fasziniert. In jedem schweben Quallen - in grün, blau, pink, weiß ... grazile Wesen wie aus einer anderen Welt.
Jennifer Purcell: "Hier haben wir Aurelia aurita." Gewöhnliche Ohrenquallen, mit denen Kinder am Strand spielen. Pulsierende Körper, die im künstlichen Licht magisch grün leuchten. Jennifer Purcell: "Hier hinten haben wir eine der Schlüsselarten, die Leuchtqualle Pelagia noctiluca, die im Mittelmeer schreckliche Probleme bereitet, weil sie übel brennt."
Auch Jennifer Purcell ist im Loro Parque nur zu Besuch. Hier werden die Polypen der Quallen gezüchtet, mit denen sie an der Universität von Las Palmas ihre Forschung vorantreibt. "Das Feld war sehr klein. Seit Jahrzehnten, wirklich seit Jahrzehnten, haben wir den Leuten gesagt, dass Quallen wichtig sind. Aber es hat niemanden wirklich gekümmert."
Doch dann häuften sich die Zwischenfälle: Quallen, die Kühlwasserzuflüsse von Kraftwerken verstopften. Oder 2007, als ein Schwarm in Nordirland auf Lachsfarmen traf und innerhalb von nur sieben Stunden alle Fische tötete.
Millionen Quallen in nur einem Schwarm
Für Jennifer Purcell ist der Stimmungsumschwung eine Genugtuung, nachdem sie jahrzehntelang um die Finanzierung ihrer Projekte und um Schiffszeit kämpfen musste. Moderne Laboranalysen und Hochleistungskameras, die das Geschehen unter Wasser aufzeichnen, erlauben inzwischen ganz neue Forschungsansätze. Und damit lassen sich Fragen angehen, die auf den ersten Blick trivial erscheinen - es aber keineswegs sind. Etwa dazu, wie viele Tiere eigentlich einen Schwarm ausmachen.
Jennifer Purcell: "Ich bekam also die wirklich großartige Chance, im Nordwestpazifik, in einem Fjord in Washington State, eine Blüte von Ohrenquallen zu untersuchen." Dort, im Puget Sound, ist die Angst um den wertvollen Wildlachsbestand groß. Jennifer Purcell: "Seit Jahren wird dort Monat für Monat geflogen, und auf den Luftbildern lassen sich die Quallenschwärme leicht ausmachen und quantifizieren."
Die Flüge verraten den Fischereibiologen, dass sich die Beute der Lachse - die Heringe und Stinte -, eher im ländlich geprägten Teil des Meeresarms aufhalten, während die Hunderte von Metern langen, weißen Streifen der Quallenschwärme mehr in der Nähe der großen Städte zu finden sind. Doch die Luftbilder zeigen nur, was an der Oberfläche los ist.
Um unter die Wasseroberfläche zu sehen, wurden mit einer Kamera bestückte Planktonnetze eingesetzt. Wann immer sie an Bord kamen, waren die Netze prall gefüllt, Wasser und lange Schleimfäden tropften aus ihnen: Sie waren voller Ohrenquallen, die Jennifer Purcell dann schnell zählte und vermaß. "Wir bemühten uns, die bestmögliche Abschätzung zu machen. Wir haben eine Stelle untersucht, an der der Puget-Sound nur etwa zehn Meter tief ist: Und dort gab es Millionen Quallen."
Millionen, in einem einzigen Schwarm. Quallen bevölkern die Meere seit Äonen. Ihr Bauplan scheint sich in mehr als 600 Millionen Jahren kaum verändert zu haben. Zwei durchsichtige Hautschichten mit Gallerte dazwischen. Sie haben weder Hirn, noch Blut, noch Herz. Sind im Grunde nur Haut, Magen, Mund; und ein Netz aus Nervenzellen. Sie haben eine erstaunliche Vielfalt entwickelt: Da sind bis zu 50 Meter lange Staatsquallen, in denen Polyp neben Polyp sitzt.
Es gibt fingerkuppengroße Filtrierer, durchsichtig wie Glas und riesige Raubtiere, mit Körpern, in denen ein Mensch verschwände und Tentakeln, länger als ein Blauwal. Allen gemeinsam ist, dass sie sehr schnell wachsen, weil sie keine festen Gewebe aufbauen: Sie bestehen zu mehr als 95 Prozent aus Wasser. Auf dieses Erfolgsrezept der Evolution setzten die uralten Quallen als erste. Doch später taten es ihnen Tiere aus ganz unterschiedlichen Stämmen nach: Da sind die tonnenförmigen Salpen, die mit Wirbeltieren verwandt sind. Und die transparenten Rippenquallen, bei denen immer noch darüber gestritten wird, wohin sie eigentlich gehören.
"Es gab Invasionen fremder Arten"
Manche der Jellies leben allein, wie eine namenlose, hell leuchtende Qualle, die Meeresbiologen am Grund des Marianengrabens entdeckt haben. Andere sammeln sich zu gigantischen Schwärmen. Die scheinen seit dem Ende des vergangenen Jahrhunderts rund um die Welt zuzunehmen. 2009 war in der Fachzeitschrift Cell ein Aufsatz unter dem Titel "The Jellyfish-Joyride" erschienen, "Die Quallen-Spritztour":
Der Mensch, so warnten darin die Forscher, könnte die Meere so stark schädigen, dass sie künftig von Quallen beherrscht werden. Und so versuchen Meeresbiologen Antworten auf offene Fragen zu finden. Etwa die, was eigentlich normal ist und was Zeichen eines tief greifenden Wandels in den Meeren. Sind die Jellies wirklich auf dem Vormarsch?
Larry Madin ist stellvertretender Direktor der Woods Hole Oceanographic Institution in Woods Hole Massachusetts. Und auch er ist Mitglied der kleinen Gruppe von Forschern, die sich dem gallertartigen Zooplankton widmen.
"In der Vergangenheit hat es Ausbrüche im mediterranen Raum gegeben, und es gab Invasionen fremder Arten. Im Schwarzen Meer zum Beispiel explodierte der Bestand einer Rippenqualle, die wohl per Schiff mit dem Ballastwasser eingeschleppt worden ist und die ungeheure Schäden in der Fischerei anrichtete." Die höchstens fingerlange Mnemiopsis fraß sich binnen weniger Jahre durch das Plankton im Schwarzen Meer, bis die Sardinenbestände zusammenbrachen.
"Wir sehen solche Invasionen auch an anderen Orten, manchmal eben, weil die Tiere eingeschleppt werden, manchmal aber auch, weil das Wasser durch den Klimawandel wärmer wird und damit den Jellies bessere Lebensbedingungen bietet, den Fischen jedoch schlechtere. Die Bestände können auch in den Gebieten explodieren, wo wir durch Überfischung die Nahrungskonkurrenten der Quallen aus dem System nehmen.
Wir sehen auch, dass sie sich in den 'Todeszonen' wohlfühlen, etwa im Golf von Mexiko, wo durch die Überdüngung der Sauerstoffgehalt im Wasser für Fische zu niedrig geworden ist. Den Quallen macht das nichts aus. Im Gegenteil: Es bietet ihnen die Gelegenheit, ihre Bestände aufzubauen."
Quallenblüte abhängig von Sonnenstand?
Doch es ist nicht einfach, die Entwicklung gigantischer Quallenexplosionen vorherzusagen. Beispiel: Östliche Beringsee. Dort sah es während der 1990er-Jahre so aus, als übernähmen die Quallen das Ökosystem: Sie vermehrten und vermehrten sich. Bis zum Jahr 2001. Da kollabierte der Bestand und hält sich seitdem auf moderatem Niveau. 2001 war es plötzlich warm geworden in der Bering-See, und das veränderte alles: Strömungen, Wasserschichtung, Wind ... Auch die Seelachslarven litten, und so gab es nicht mehr genug zu fressen für eine Quallenfete.
Angesichts solcher Befunde hat Forscher der University of North Carolina at Wilmington interessiert, welche Daten eigentlich die Annahme stützen, dass Quallen die gestressten Meere übernehmen. Sie analysierten den Datenbestand - und fanden heraus, dass der für weitreichende Aussagen viel zu spärlich ist: Eine globale Zunahme lässt sich damit nicht belegen.
Quallenblüten sind interessant - aber zunächst einmal ein natürlicher Prozess, der seit Hunderten Millionen Jahren auftritt. Kylie Pitt: "Das wissen wir, weil Abdrücke ihrer Kadaver fossil überliefert sind."
Quallen schwimmen in einem Schaubecken des Ozeaneums von Stralsund
Quallen bestehen aus 95 Prozent Wasser, Haut, Magen, Mund - und ein Netz aus Nervenzellen (picture alliance / dpa / Stefan Sauer)
Ob die Quallenblüten nun zunehmen oder nicht, da steht auch für Kylie Pitts das abschließende Urteil noch aus. Die existierenden Daten hat sich die Ökologin von der Griffith University in Brisbane dann aber genauer angesehen. Dabei stieß sie auf einen verblüffenden Zusammenhang:
"Es gibt zweifellos Regionen, in denen die Quallenblüten nachweisbar zunehmen. Für andere Regionen wissen wir auch, dass die Populationen sinken. Wenn man alle weltweit vorhandenen Zeitreihen analysiert, sieht man, dass ihr Bestand - global betrachtet - in einem Zyklus von 20, 22 Jahren schwankt."
Dahinter vermuten die Australier ein komplexes Wechselspiel: von elfjährigem Sonnenfleckenzyklus und dem ebenfalls elfjährigen Zyklus, mit dem die Sonne Nord- und Südpol wechselt. Der Verdacht ist, dass die Planktonproduktion schwächelt, sobald die Sonne besonders aktiv ist: weniger Plankton, weniger zu fressen für die Quallen.
So obskur das klinge, ähnliche Phänomene tauchten bei einigen Fischen auf und beim Seegras, fügt Kylie Pitt hinzu. "Wir glauben, dass wir es bei den Quallenblüten erst einmal mit einem natürlichen Zyklus zu tun haben, und dass wir herausarbeiten müssen, was der Mensch zusätzlich auf diesen Zyklus aufsattelt."
Ölbohrtürme, Schiffe: menschengemachte Quallenfarmen
Am berüchtigtsten für ihre Ausbrüche sind die echten Quallen - von den Feuer- bis zu den Ohrenquallen. Das hängt damit zusammen, dass der Mensch mit ihnen den engsten Kontakt hat - aber auch mit ihrem Lebenszyklus. Der beginnt als befruchtete Eizelle, die sich teilt und als Larve durchs Wasser schwimmt. Die Larve setzt sich am Boden fest und verwandelt sich in einen Polypen, der bald aussieht wie ein Tellerstapel.
Irgendwann lösen sich diese Teller einer nach dem anderen ab - und kleine Medusen schwimmen davon - um zu fressen und zu wachsen. Damit der Zyklus funktioniert, müssen die Polypen sich festklammern, an Felsen und Steinen - oder an einem Stück Infrastruktur, das der Mensch ins Meer baut: jede Windturbine, jeder Ölbohrturm, jedes Schiff, jeder Pier hilft.
Das ist die große Befürchtung der Ökologen, dass der Mensch regelrechte Quallenfarmen schafft. Andererseits wissen die Wissenschaftler bislang mit Bestimmtheit nur, wo die Polypen der Ohrenquallen sitzen. Bei allen anderen haben sie keine Ahnung.
Alle paar Wochen werden in der Anzuchtstation des Loro Parque auf Teneriffa Polypen und junge Quallen für den Transport verpackt. Über den Atlantik ist es eine kurze Passage auf die Nachbarinsel Gran Canaria. Dort liegt in den Bergen am Stadtrand von Las Palmas die moderne Campus-Universität, wo wir am Ökophysiologischen Institut Eomar Jennifer Purcell wiedertreffen.
Eigentlich forscht die US-Amerikanerin an der Western Washington University in Anacortes, auf den Kanaren ist sie mit einem Stipendium zu Gast. "Die Bedeutung der Quallen im gesamten Kohlenstoffkreislauf ist sehr viel größer als uns bewusst war. Sie zu bestimmen ist schwierig, und deshalb möchte ich hier eine Technik erlernen, die mir einen tieferen Einblick in ihren Stoffwechselbedarf erlaubt."
Auf den gekachelten Labortischen Aquarium neben Aquarium, durchströmt von Meerwasser, das in Kanistern angeliefert wird. In einigen der Aquarien wachsen gerade Polypen heran. In anderen pulsieren bereits die Miniquallen.
Daniel Bondyale Juez im Labor bei der Vorbereitung der Sauerstoffmessung
Daniel Bondyale Juez untersucht unter anderem im Labor, wie sich Quallen auf Hungern einstellen (Deutschlandfunk / Dagmar Röhrlich)
Daniel Bondyale Juez studiert am Eomar. Er fischt eine junge Ohrenqualle aus einem der Aquarien. Nachdem sie fast einen Monat lang gehungert hat, ist sie ganz durchsichtig geworden, im Wasser kaum noch zu erkennen. "Durch das Hungern hat sie begonnen, alle nicht unbedingt notwendigen Körperteile zu verdauen, um trotz Stress zu überleben."
Und nun soll sie Daten für die Wissenschaft liefern. Gemessen wird in einem anderen Labor eine Etage höher. Es geht darum herauszufinden, wie viel Nahrung Quallen und ihre Polypen brauchen, damit ihr Metabolismus ausgeglichen ist, wie sie sich auf Hungern einstellen und welche Auswirkungen das auf ihre Reproduktionsfähigkeit hat - wichtige Daten, um ihre Rolle in den Ökosystemen besser einschätzen zu können.
Vorsichtig hat Daniel Bondyale Juez die Qualle in den Messbehälter bugsiert. Sie bewegt sich kaum noch. Dann misst er die Sauerstoffabnahme im Wasser. Ein Vorgang, den er in festen Zeitabständen wiederholen wird. Frühere Messreihen hatten gezeigt: Nicht etwa die schwimmenden Medusen verbrauchen die meiste Energie, sondern die Polypen. Schließlich vermehren sie sich intensiv, schnüren eine Minimeduse nach der anderen ab. Bis zu 30 könnten es sein, vermuten die Forscher. Genau weiß das noch niemand.
Jellies haben immer Hunger, können Unmassen verschlingen, aber auch schiere Ewigkeiten hungern. Sie vertilgen alles - von mikroskopischen Planktonorganismen bis zu kleinen Fischen, und sie verschmähen auch andere Jellies nicht: So löste im Schwarzen Meer eine zweite eingeschleppte Rippenquallenart das Problem mit der ersten: Sie frisst sie auf. Selbst Kannibalismus ist ihnen nicht fremd. Doch abgesehen von diesem, wenn man so will, internen Gallert-Kreislauf, galten Quallen als Sackgasse des Nahrungsnetzes, als totes Ende. Höchstens interessant für ein paar Nahrungsspezialisten wie Lederschildkröten oder die bizarren Mondfische.
Quallen auf dem Speiseplan von Pinguinen und Walen
Weil Quallen-Körper zerbrechlich sind und ohne feste Bestandteile, verwandeln sie sich im Magen eines Fressfeinds sofort in unidentifizierbaren Schleim. Deshalb fielen sie bei den klassischen Analysen des Mageninhalts nicht auf. Doch nun gibt es neue Wege:
"Wir entwickeln seit 14 Jahren eine Methode, um die DNA-Spuren im Kot zu rekonstruieren." Simon Jarman vom Research Center in Biodiversity and Genetic Resources im portugiesischen Porto beschäftigt sich mit der Ökologie antarktischer Vögel und Säugetiere. Jellies standen überhaupt nicht auf seiner Forschungsagenda - bis die DNA-Analysen Unerwartetes verrieten:
"Wir haben viele Kotproben analysiert, sodass wir inzwischen ein sehr gutes Bild davon haben, was Albatrosse und Pinguine, aber auch Robben oder Wale fressen. Ein wichtiges Ergebnis ist, dass im Südozean viele Tiere Quallen fressen, und zwar vor allem die brennenden Quallen, mit denen wir am vertrautesten sind. Sie machen wirklich einen großen Teil ihrer Nahrung aus."
Nicht Krill oder Fisch, sondern Quallen - ausgerechnet die energiearmen Quallen. Ohrenquallen sind mit ihren 17 Kalorien pro 100 Gramm noch das Nahrhafteste, was die Gallerttiere zu bieten haben. Eine Leuchtqualle bringt es auf 2,4 Kalorien und eine Rippenqualle auf magere 1,7. Statt Fett gibt es Kollagen. Doch vielleicht sei es genau das, was die Tiere suchten, spekuliert Simon Jarman: Der Mensch esse ja auch Salat.
"Biologen fragen sich in solchen Fällen, ob die Quallen gezielt gefressen werden - oder weil jeder Räuber nimmt, was er kriegen kann. Unsere Ergebnisse legen nahe, dass einige Pinguin- und Albatrossarten Generalisten sind: Sie scheinen Quallen zu fressen, einfach weil sie da sind. Wir haben unsere Untersuchungen gleichzeitig an mehreren Punkten rund um die Antarktis durchgeführt, und dabei zeigte sich, dass sie immer dann viele Quallen fressen, wenn es in dem Ökosystem gerade viele gibt."
Langustenlarven lieben Salpen
Welche Rolle spielen die Quallen in den Nahrungsnetzen der Ozeane? Immer mehr Einzelbefunde zeichnen ein immer schärferes Bild. Andrew Jeffs: "Was wir nicht wussten: Auch die Langusten und ihre Larven fressen Quallen. Wenn Langustenlarven schlüpfen, passen sie auf eine Nadelspitze. Sie driften dann zwei, drei Jahren durchs Meer. Sie sind absolut flach, und sie sehen aus, als hätte ich einen Kreis aus einer Plastiktüte geschnitten und zehn lange Beine daran geklebt. Sie sind miserable Schwimmer und sobald sie im Wasser auf etwas stoßen, packen sie es mit ihren langen Beinen und testen, ob es schmeckt."
Niemand wusste genau, was sie fressen. Bis 2011, als Andrew Jeffs von der University of Aukland während einer Planktonexpedition merkwürdige Beute machte: "An einer dieser Qualle, es war eine große Qualle - also in Wirklichkeit war es keine Qualle, sondern eine Salpe - also an dieser Salpe hingen zehn oder 15 Langustenlarven, die geschäftig das Salpenfleisch fraßen, während sie sie als Floß benutzten. Sie hingen an diesen riesigen gallertartigen Meerestieren wie ein kleines Kind an einem riesigen Ball aus Zuckerwatte, mit dem es die nächsten Tage beschäftigt ist.
Was wir gefunden haben: Das gallertartige Plankton - inklusive der Quallen - machen bei den australischen Langustenlarven rund 80 bis 90 Prozent der Ernährung aus. Dabei sind sie recht wählerisch: Sie lieben Salpen und verabscheuen die echten, brennenden Quallen." Auch bei jungen Thun- und Schwertfischen im Mittelmeer sollen die Gallerttiere bis zu 80 Prozent der Diät ausmachen.
Kaiserpinguine in der Antarktis
Auch Pinguine fressen Quallen - wenn sie gerade da sind (imago stock&people 65760025)
Der Lurefjord nördlich von Bergen in Südwest-Norwegen. Eine Idylle, Wiesen, Wald, ein kleines Dorf. Früher brauchten die Fischer nicht weit zu fahren, um ihre Netze mit Heringen oder Kabeljau zu füllen. Doch seit den 1970er-Jahren gibt das dunkelgraue Wasser nichts mehr her. Damals sind in irgendeiner Nacht mit der Flut ein paar Tiefseequallen über den seichten Felsriegel geschwommen, der den Fjord vom Meer trennt: Periphylla periphylla - leuchtend-rote Schönheiten, die tagsüber das dunkle Wasser der Tiefsee bevorzugen und nachts an die Oberfläche kommen, um Plankton zu fressen. Die Qualle war im Fjord gefangen, vermehrte sich und machte ihn zum dystopischen Modell für die Zukunft der Meere, denn die Fische verschwanden.
Statt dessen kamen die Meeresbiologen, um zu analysieren, was dort passiert. Und sie lernten erneut Überraschendes zur Rolle der Qualle in den Ökosystemen. Es geht um die sogenannten Jelly-Falls: das Schicksal der toten Quallen. Das interessiert Andrew Sweetman von der Heriot-Watt University in Edinburgh. Sein Spezialgebiet ist die Ökologie des Meeresbodens, weshalb er seit 2010 immer wieder eine Kameraausrüstung in den Lurefjord ablässt. Weil sich in diesem Fjord die Quallen auf dem Sonar als dichtes Band abzeichnen, erwartete er eigentlich, den Grund mit verrottenden Gallerttieren bedeckt zu sehen. Doch seltsamerweise entdeckte er kaum eine. Die Lösung des Rätsels brachte der benachbarte Sognefjord:
Andrew Sweetman: "Wir schickten dort einen mit Kameras und einem Fisch als Köder bestückten Lander in 1.300 Meter Tiefe. Am nächsten Tag zogen wir ihn wieder hoch und luden die Bilder herunter. Darauf sahen wir, dass der Fisch sehr schnell von Tiefsee-Aasfressern verspeist wurde, allen voran Schleimaale, Krabben und Amphipoden. Am nächsten Tag wiederholten wir das Experiment mit einer Qualle und erwarteten, dass die wohl niemand fressen würde.
Zu unserer Überraschung war 18 Stunden später, als wir den Lander an Bord holten, die Qualle verschwunden. Wir berieten zweieinhalb Stunden lang, wie wir sie besser befestigen könnten, weil wir davon ausgingen, dass sie abgerutscht war. Erst dann sahen wir uns das Videomaterial an: Und siehe da, die Qualle war sehr wohl unten angekommen - und in kürzester Zeit von denselben Aasfressern verspeist worden wie der Fischköder."
Sollten also die Jellies ihren Teil zur "Fütterung der Tiefsee" beitragen? Es folgten viele weitere Experimente, in unterschiedlichen Wassertiefen und in Fjorden ebenso wie in 5.500 Metern Tiefe im Westpazifik. Überall das gleiche Ergebnis: Quallen sind in der Tiefsee begehrt, schaffen Nährstoffe von der Oberfläche nach unten. Dabei sinken sie überraschend schnell: Pro Tag geht es zwischen 500 bis 1600 Meter hinab. Wenn sie in der Tiefsee ankommen, sind sie noch unzersetzt, sozusagen Frischfleisch:
Andrew Sweetman: "Sie versorgen die Tiere am Meeresboden genauso schnell, wie es ein toter Fisch tun würde. Quallen erhöhen also den Kohlen- und Stickstofffluss massiv und sind ein wichtiger Faktor für die biologische Pumpe. Sie sind damit wichtig für die gesamte Lebensgemeinschaft am Meeresboden, nicht nur für die Aasfresser."
Lebendige Sensoren zum Zustand der Meere
Was am Tiefseeboden an Kohlenstoff gefressen wird, kommt nicht mehr so schnell zurück in die Atmosphäre. Angesichts der Massen an Jellies in den Weltmeeren dürfte ihr Beitrag zur Kohlenstoffsenke nicht zu vernachlässigen sein, vermutet Andrew Sweetman. In den Modellrechnungen zur Pufferkapazität der Ozeane fehlt er bislang.
Der Blick verändert sich. Noch vor 20 Jahren galten Quallen als unnütze Salzwassersäcke, als Sackgasse der Nahrungsnetze, die alles leer fraßen, selbst jedoch zu nichts taugten und dabei waren, die Weltmeere zu übernehmen.
Larry Madin: "Wir wissen, dass sich die Ozeane verändern durch steigende Temperaturen und anderen Umweltbelastungen. Und wir wissen auch, dass etliche Quallen damit besser fertig werden als Fische."
Albtraumhafte Prognosen provozierten martialische Lösungsvorschläge. Synthetische Moleküle könnten die Fortpflanzung unterbinden und GPS-gesteuerte Roboter-Terminatoren die Tiere zerhäckseln. In die Quallenforschung floss plötzlich Geld und mit den Ergebnissen verschob sich die Perspektive:
Larry Madin: "All diese Tiere, ob es sich nun um Quallen handelt, um Staatsquallen, Rippenquallen oder Salpen, sie alle sind interessante Anpassungen an das Leben in den Ozeanen. Damit können sie uns lehren, wie sich das Leben in den Meeren entwickelt hat. Sie sind faszinierende Wesen - und ich denke, dass sie uns dabei helfen können zu verstehen, wie sich der Ozean um uns verändert."
Quallen dürften genau dort zunehmen, wo der Mensch die Bedingungen verändert - und damit könnten sie zu lebendigen Sensoren zum Zustand der Meere werden.