Geht es nach dem IOC, finden in zwölf Monaten Olympische Winterspiele in Peking statt. Exakt in einem Jahr kämpfen Bobpiloten um Medaillen. Skispringer heben vom Bakken ab. Austragungsland China und mit ihm das IOC geraten aber immer stärker in die Kritik.
"Ich denke, das IOC hat einen großen Fehler gemacht, als es an Peking die Winterspiele 2022 vergab. Denn wie wir gesehen haben, nahm nach Olympia 2008 die Unterdrückung von Minderheiten, besonders der uigurischen Bevölkerung, drastisch zu. Es wird Völkermord an den Uiguren verübt", erklärt Zumretay Arkin. Sie ist selbst gebürtige Uigurin. Ihre Eltern wanderten mit ihr, als sie zehn Jahre alt war, wegen der schon damals erlittenen Diskriminierung nach Kanada aus.
2009 kehrte sie zu einem Verwandtenbesuch nach China zurück. Was sie dort erleben musste, öffnete ihr die Augen. "Als wir in Peking ankamen wurden wir einem racial profiling unterzogen. Meine Mutter wurde in einen Verhörraum gebracht. Als wir in Urumqi, der Hauptstadt Xinjiangs, ankamen, war der Flughafen geschlossen. Es gab nur ein einziges Auto, und der Fahrer lehnte es ab, Uiguren zu transportieren. Ich sah auch, wie uigurische Männer verhaftet wurden, nur weil sie sich zu ihrer uigurischen Identität bekannten."
Das war 2009, ein Jahr nach den Olympischen Sommerspielen in Peking. Solche Erlebnisse sind ein Beleg für die Fehleinschätzung aller damaligen Olympiabefürworter.
Ai Weiwei: "Hoffnungen waren scheinheilig"
Ai Weiwei, chinesischer Künstler und Systemkritiker, geht mit seinem Land und mit dem Westen noch viel härter ins Gericht. Er war 2008 am Entwurf des Vogelnests, des ikonischen Nationalstadions von Peking, beteiligt. Sein Resümee: "Die Hoffnungen damals waren scheinheilig. Denn das Interesse, an Chinas Wirtschaftsmarkt teilzunehmen, ist viel größer als auf die Menschenrechte zu achten. Diese Hoffnungen waren nur dazu da, die Öffentlichkeit im Westen zu verwirren. Politiker und Unternehmen scheren sich auch sonst nicht um die Situation der Menschenrechte in den Staaten, mit denen sie Geschäfte machen. Das ist ein Fakt."
Nach den Sommerspielen 2008 zogen Chinas Herrscher unter Komplizenschaft des Westens die Zügel weiter an. Ai Weiwei: "China wird sehr stark von der Partei kontrolliert. Jede abweichende Meinung wird niedergeschmettert. Es gibt keine Redefreiheit und vielfältige Menschenrechtsverletzungen."
Dagegen kämpft Zumretay Arkin an. Im Münchner Regionalbüro des uigurischen Nationalkongresses koordiniert sie auch Proteste gegen die Olympiaausrichtung 2022. Die Situation in Xinjiang, der Heimatprovinz der uigurischen Bevölkerung, beschreibt sie so: "Seit 2017 sind mehr als drei Millionen Uiguren, Kasachen und andere Minderheiten in Lagern interniert. Sie sind dort Folter, sexueller und psychischer Gewalt ausgeliefert." Zudem sind sie Zwangsarbeit ausgesetzt. "Das ist relevant auch für Olympia. Denn in Vorbereitung der Spiele können Sponsoren und das IOC selbst über ihre Lieferketten in die Zwangsarbeit durch Uiguren involviert sein." Zumretay Arkin denkt dabei an Merchandisingprodukte mit dem Ringe-Logo, an Sportbekleidung und Elektronik.
"Auch die deutsche Autoindustrie hat Fabriken in Xinjiang"
Noch deutlicher wird Ai Weiwei: "Viele Länder, etwa 500 Unternehmen, haben Geschäftsbeziehungen mit Xinjiang. Das ist der größe Baumwollproduzent. Die ganze Modebranche bezieht ihre Rohstoffe aus Xinjiang, und vieles davon stammt aus Zwangsarbeit. Auch die deutsche Autoindustrie wie Volkswagen hat Fabriken in Xinjiang."
Das Onlinemagazin ChinaFile zählte allein 53 Unternehmen aus der Forbes-Liste der 500 größten US-Firmen mit Geschäftsbeziehungen nach Xinjiang. 68 Firmen aus Europa, darunter 18 deutsche, nennt ChinaFile ebenfalls; neben VW auch die staatlich subventionierte Lufthansa, die Deutsche Bahn und DHL.
Das Profitieren von Zwangsarbeit bereitet inzwischen einigen Parlamentariern Bauchschmerzen. Im September 2020 verabschiedete das US-Repräsentantenhaus den "Uyghur Forced Labour Prevention Act". Er sieht ein Verbot der Einfuhr von Waren vor, die durch Zwangsarbeit in Xinjiang entstanden. Das Europaparlament beschloss im Dezember eine ähnliche Resolution.
"Wir können gegenüber China nicht die zynische Haltung einnehmen: Ihr seid ein mächtiges Regime, dann lassen wir das mal mit den Menschenrechten", erklärt Reinhard Bütikofer dem Deutschlandfunk. Der Grünenpolitiker ist im Europaparlament Vorsitzender der China-Delegation. "Uns geht es dabei ganz praktisch um wirksame Maßnahmen dagegen, dass Produkte aus in China erzwungener Zwangsarbeit auf den Europäischen Markt zugelassen werden."
Bütikofer will aber auch ganz direkt Sponsoren an ihre Verantwortung erinnern und Politiker in die Pflicht nehmen. "Ich würde gern eine kritische Debatte anfangen, mit einerseits vielen Spitzenpolitikern darüber: Müsst ihr unbedingt die Staffage abgeben für die Inszenierung einer wunderschönen Sportwelt vor dem Hintergrund einer totalitären Unterdrückung? Und zweitens mit den Sponsoren: Meint ihr wirklich, ihr müsst euer Geld damit verdienen, dass man die Augen schließt gegenüber diesen unerträglichen Zuständen?"
Direkte Ansprache an AirBnB
Den Olympia-Sponsor AirBnB geht die Koalition für die Beendigung der uigurischen Zwangsarbeit, für die auch Zumretay Arkin arbeitet, direkt mit einer Kampagne an. "Wir haben AirBnB ausgesucht, weil dieses Unternehmen sich sehr sozial gibt. Wenn es um China geht, sind sie aber still. Da ist viel Scheinheiligkeit. Wir wissen, dass sie vor einigen Jahren Uiguren diskriminiert haben, indem sie keine Zimmer an sie vermietet haben. Sie sagten, dass sie sich dabei an lokale Gesetze hielten."
Laut Zumretay Arkin hat sich daran nichts geändert. AirBnB reagierte nicht auf eine Anfrage vom Deutschlandfunk. In seiner Olympiawerbung wirbt AirBnB für: "Reiseerlebnisse, die interkulturellen Austausch schaffen und gleichzeitig der lokalen Community zugutekommen". Sehr zynisch, wenn man an Xinjiang denkt.
Ai Weiwei sieht die Lösung nur darin, dass überall die Menschenrechte respektiert werden müssen, auch von Akteuren aus dem Westen. "Wir müssen klar machen, dass überall dort, wo Menschenrechte gebrochen werden, jeder davon verletzt wird. Deshalb müssen Menschenrechtsverletzungen überall aufhören. Nur so kann man China auch verantwortlich machen."
Zumretay Arkin will derweil das IOC nicht aus der Pflicht lassen: "Ich hatte ein Meeting mit IOC-Verantwortlichen im Oktober. Sie erklärten uns sehr deutlich, dass sie ihre Position nicht verändern würden. Die besteht in politischer Neutralität. Aber wenn es zu Völkermord kommt, hilft Neutralität nicht viel. Sie ändert nichts."
Reinhard Bütikofer erwartet vom IOC zwar keine proaktive Haltung. Einfach so gewähren lassen möchte er dessen Präsidenten Thomas Bach aber keinesfalls. "Thomas Bach hat sich in den letzten Jahren meines Erachtes als ein rückgratloser Freund sämtlicher Potentaten und reichen Herrscher präsentiert. Von ihm erwarte ich leider nicht sehr viel. Aber ich glaube, man kann ihm Druck machen, dass er mehr tun muss, als er möchte."