
Der Bilanzskandal beim Finanzdienstleister Wirecard, der Hygieneskandal bei der Schlachterei Tönnies, der Dieselskandal in der Autoindustrie – das sind nur die jüngsten Fälle, in denen etwas so richtig falsch lief. Künftig soll es dafür deutlich höhere Strafen geben und zwar für die Unternehmen selbst. So sieht es zumindest ein Gesetzentwurf von Bundesjustizministerin Christine Lambrecht, SPD, vor.

"Wenn wir von Wirtschaftskriminalität sprechen, dann kommen wir nicht umhin, auch das Thema Unternehmenssanktionen anzusprechen. Ein ganz wichtiges Thema, im Koalitionsvertrag ausbuchstabiert wie kaum ein anderes Thema; es wurde en détail klar geregelt. Ich habe daraus einen Gesetzentwurf entwickelt; er liegt auf dem Tisch. Und ich kann nur sagen – auch da wieder an die Kolleginnen und Kollegen von der Union und auch an die Kollegen aus dem Kabinett: Pacta sunt servanda. Wir haben uns darauf verständigt, ich habe vorgelegt, und jetzt müssen wir das auch beschließen. Der Ehrliche darf nicht der Dumme sein. Wer sich an Recht und Gesetz als Unternehmer hält, darf keinen Wettbewerbsnachteil haben gegen den anderen, die tricksen, täuschen und betrügen."
"Wir brauchen auch kein Verbandssanktionsrecht. Wir brauchen mehr Freiheit für die Unternehmer und nicht mehr Gängelung."
Zumindest Nachbesserungsbedarf sieht auch der rechtspolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag Jan-Marco Luczak.
"Klar ist für mich, wir haben das Gesetzesvorhaben im Koalitionsvertrag beschrieben, und auch ausführlich beschrieben. Es ist kein Geheimnis, dass das nicht das Lieblingsprojekt der Union ist, sondern dass das eine SPD-Forderung war. Dennoch gilt: wir sind vertragstreu, wir haben den Koalitionsvertrag gemeinsam so vereinbart. Jetzt kommt es aber dann schon darauf an, wie wird der Koalitionsvertrag auch umgesetzt. Und da muss man schon sagen, bei aller Detailtreue der Regelung im Koalitionsvertrag, das, was uns die Ministerin da vorgelegt hat, geht weit über das hinaus und wird vor allen Dingen den Anforderungen in der Praxis nicht gerecht."
Nach dem Willen der Bundesjustizministerin soll dazu ein ganz neues Gesetz geschaffen werden, das in diesem Bereich das Ordnungswidrigkeitsgesetz, das OWiG, ablöst. Begrifflich wird es dann keine Geldbußen mehr geben, sondern Sanktionen. Und die können deutlich höher werden, als die 10 Millionen nach dem bisherigen OWiG. Bis zu zehn Prozent des Jahresumsatzes könnten dann für große Unternehmen fällig werden. Und auch wenn mit dem neuen Gesetz die Verantwortlichkeit für Straftaten geahndet werden soll – ein echtes "Strafrecht" soll es nach dem Willen des Ministeriums ausdrücklich nicht sein. Denn mehr noch als das Bestrafen soll im Mittelpunkt das Vorbeugen von Straftaten stehen, erklärt der Augsburger Rechtsprofessor Michael Kubiciel die vom Ministerium gewählte Bezeichnung.
"Wichtiger ist allerdings wohl der Grund, dass man das Wort Strafrecht aus politischen Gründen, wegen seiner ganzen Konnotationen und auch wegen des Schuldprinzips aus der Diskussion rausnehmen wollte und deswegen den neutralen Begriff des Sanktionenrechts verwandt hat."
"Die Idee, Kooperationen, das heißt Personenverbände zu bestrafen, ist uralt. Das war bis um die Wende zum 19. Jahrhundert, war das in Deutschland Standard. Damals gab es noch nicht Unternehmen in dem Sinne, wie wir sie heute kennen, aber es gab Gilden, Zünfte, Abteien, Städte."
Zwischenzeitlich verloren die Regelungen dann an Bedeutung, wurden aber Ende des 19. Jahrhunderts, als Kartelle, Trusts und Unternehmen entstanden, wieder herangezogen.
"Erst in den 1950er-Jahren setzte sich dann die Auffassung durch, dass es ein Unternehmensstrafrecht in Deutschland nicht geben dürfe. Da spielten einmal die Entschädigungszahlungen von Zwangsarbeitern eine Rolle, die man gegen Unternehmen wohl nicht haben wollte, vor allem allerdings aber auch das Bedürfnis nach Abgrenzung gegenüber den amerikanischen Besatzungsmächten. Das kann man in der Strafrechtswissenschaft sehr schön nachlesen, da wird immer polemisiert, das Unternehmensstrafrecht, das entstamme fremden, angloamerikanischen Traditionen, während der moderne deutsche Schuldbegriff, sich eben nur auf natürliche Personen beziehe, und das ist historisch einfach falsch."
Was genau unter "Compliance zu verstehen ist, erläutert der Berliner Rechtsanwalt Rainer Frank. Er hat sich auf die Beratung von Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen zu dieser Frage spezialisiert.
"Compliance heißt Regeleinhaltung. Gemeint ist damit immer ein Compliance-Management-System, also ein Regelwerk und eine innerbetriebliche Organisation, deren Aufgabe es ist, Rechtsverstöße im Unternehmen, ausgehend von Unternehmen und externe Rechtsverstöße mit Auswirkungen auf das Unternehmen zu verhindern."
"Also, Unternehmen sollen sich sagen: Wo kann bei uns etwas schiefgehen? Das soll identifiziert werden und es soll Vorsorge getroffen werden, durch Regeln, die man sich gibt, durch eine Gestaltung der Aufsichtspflichten. Wenn ein Unternehmen zum Beispiel eine Unterschriftenrichtlinie hat, dann ist das nicht nur eine Betriebsorganisationsrichtlinie, sondern die hat ja auch einen Zweck, nämlich zu verhindern, dass einer, der dazu nicht befugt ist, über Vermögen verfügt. Dann haben Unternehmen in vielerlei Hinsicht Trennungsprinzipien, Vier-Augen-Prinzipien. Die dienen ja auch dazu, dass nicht einer dem Unternehmen Schaden zufügt, sondern dass eben zwei Leute sich eine Sache gemeinsam ansehen."
Je nach Geschäftsfeld und Größe des Unternehmens können Compliance-Systeme unterschiedlich ausgestaltet werden. Bei kleinen und mittleren Unternehmen, mit geringem Risiko von Rechtsverletzungen, können auch wenige, einfache Maßnahmen ausreichend sein. Teure Compliance-Programme oder Zertifizierungen sind hier nicht nötig, betont das Bundesjustizministerium in der Gesetzesbegründung und reagiert damit auf Bedenken aus der Wirtschaft.
"Die dahinterstehende Ratio nämlich, wie es ja auch so schön heißt im Gesetz, `die Integrität der Wirtschaft zu fördern‘, die kann ich schon nachvollziehen. Insofern bin ich kein grundsätzlicher Gegner des Gesetzes. Ich habe eher in einigen Detail- oder auch vielleicht grundsätzlicheren Fragen Bedenken und Anregungen, was man besser machen könnte, aber wie gesagt, ich halte die Intention des Gesetzgebers für durchaus nachvollziehbar."
"Was ich schon merke, wenn ich mit Kollegen spreche, mit anderen Rechtsabteilungsleitern oder mit Compliance-Verantwortlichen in anderen Unternehmen, dann hat schon der Entwurf, der vorliegt und die Diskussion darum, dem ganzen Thema Compliance noch mal einen gewissen Bedeutungsschub gegeben. Ob das dann zwingend dazu führt, dass dann Unternehmen in dem Sinne auch integrer werden, also sich die Kulturen vielleicht noch ein wenig verändern, das ist, glaube ich, jetzt noch zu früh, um das abschließend beurteilen zu können. Aber man sieht zumindest ein bisschen Bewegung, das würde ich schon sagen."

"Die kann nur so aussehen, wenn ich zusammenarbeite, wird es noch viel schlimmer. Dann kriege ich zwar den Strafrabatt, aber ich lege so viel offen, was den Strafrabatt wiederum konterkariert. Wenn also eine Geschäftsführung sich dann dafür entscheidet, nicht zu kooperieren, dann weiß die Staatsanwaltschaft ja auch genau, warum sie das nicht tut. Und was macht die Staatsanwaltschaft dann? Die bisher geleistete Ermittlungsarbeit des Unternehmens, auf der diese ganze Einschätzung beruht, die kann von der Staatsanwaltschaft dann beschlagnahmt werden."
Faktisch hieße das, kritisiert Haberrecker, dass Unternehmen hier zu ihrer eigenen Bestrafung beitragen müssen. Das aber widerspricht dem Grundsatz in jedem Strafprozess: "nemo tenetur se ipsum accusare" – Niemand ist verpflichtet, sich selbst zu belasten.
"Und das halte ich aus ökonomischer Sicht, aber auch aus rechtsdogmatischer Sicht, aus strafrechtlicher Sicht für sehr problematisch."
"Und insofern kann man nicht die staatsanwaltliche Sicht und das staatsanwaltliche Handeln, was eben auch mit solchen Belehrungspflichten und -rechten von Zeugen einhergeht, mal einfach so eins zu eins in das Unternehmen kippen."
Einerseits gibt es einen Strafrabatt, wenn das Unternehmen wesentlich dazu beiträgt, dass Straftaten aufgeklärt werden, aber:
"Ich kann den Sachverhalt nicht aufklären, wenn meine Mitarbeiter, die involviert waren, das Recht haben, zu schweigen."
Wie wichtig die Mitarbeiterbefragungen für die internen Ermittlungen sind, weiß auch Henning Stuke. Er war früher Kriminalbeamter und schult jetzt Unternehmen und Rechtsanwaltskanzleien in der Technik, Befragungen beziehungsweise Interviews effizient zu führen.
"Informationen aus Aussagen sind so der Treibstoff für die Ermittlungen. Am Ende einer Untersuchung stehen immer die Interviews an. Und das, was sich daraus ergibt, was sie daraus verwerten können, bildet den Kern der Ermittlungen. Insofern ist es wichtig, dass man am Ende diese Interviews möglichst professionell führt."
"Oftmals wird eine solche Situation auch von den Interviewern als eine Art Zwangskommunikation wahrgenommen, wo der andere eigentlich nur verpflichtet ist diese Antworten dann zu geben. Aber ein gutes Interview, da geht es darum, dass man auch an manchen Stellen quasi gleichberechtigt die Rollen verteilt und sich dann gleichberechtigt an verschiedenen Stellen unterhält. Denn es geht im Prinzip darum, dass man ein gutes Verhältnis zu seinem Gesprächspartner findet, weil Menschen eigentlich nur geneigt sind, unangenehme Sachen zu sagen gegenüber jemandem, dem sie vertrauen."
Henning Stuke geht davon aus, dass mit dem neuen Gesetz das Bewusstsein für die Bedeutung professioneller Mitarbeiterinterviews wachsen wird. Er rechnet allerdings auch damit, dass durch die gesetzlichen Vorgaben solche Gespräche künftig schwieriger werden.

"Woran liegt das? Ressourcen, könnte man überlegen. Ich glaube, dass es eigentlich eher eine Frage ist, ob die einzelnen Staatsanwälte vor Ort mit dem Gesetz vertraut sind, ob es dort eine gewisse Tradition der Rechtsanwendung gibt oder ob das noch nie gemacht worden ist."
Auf jeden Fall soll mit diesen Unterschieden Schluss sein. Staatsanwälte sollen künftig nicht mehr entscheiden, welchem Fall sie nachgehen und welchem nicht. Wenn der Verdacht auf eine Unternehmensstraftat besteht, muss ermittelt werden.
"Also, nach meinem Dafürhalten ist es eben so, dass die allermeisten Taten, die dann verfolgt werden, nachher in einer Einstellung des Verfahrens enden werden. Ich persönlich würde schätzen, das sind vermutlich 90, wenn nicht gar mehr als 90 Prozent. Das heißt, die Staatsanwaltschaften haben erstmal den ganzen Aufwand, müssen die Verfahren eröffnen, Akten anlegen, Ermittlungen anstoßen, die Polizei damit beschäftigen, andere Behörden beschäftigen usw. Und bei den Unternehmen natürlich auch. Denn als Unternehmen werden sie ja dann auch erstmal damit konfrontiert mit einer staatsanwaltlichen Untersuchung, die, wie ich schon sagte, im Zweifel ohnehin später eingestellt wird. Aber gleichwohl müssen sie ja erst einmal mit dieser Untersuchung umgehen."
"Und deswegen glaube ich, wird das Gesetz in der Praxis nicht funktionieren, weil dann am Ende es so ist, dass die Behörden, die ja ermitteln müssen, dass die am Ende die internen Untersuchungen durchführen müssten, es aber überhaupt keine ausreichende Personalausstattung gibt. Deswegen wird es am langen Ende dazu führen, dass Unternehmen und die Behörde sich an einen Tisch setzen werden und am Ende wird es einen Deal über die Höhe der Strafe geben. Und das ist genau das Gegenteil von dem, was wir erreichen wollen. Wir wollen keine Deal-Kultur und das genau ist das, was der Gesetzentwurf in der Praxis fördern wird."
So wie der Gesetzentwurf vorgelegt wurde, kann er nicht bleiben, sagt Luczak. Vor allem müssten auch die Stellungnahmen aus den Verbänden mitberücksichtigt werden, sagt der Abgeordnete.

Viel Zeit bleibt den Koalitionsfraktionen nicht mehr, um bei dieser komplexen Materie zu einer Einigung zu kommen. Immerhin beginnt im nächsten Jahr die heiße Phase des Bundestagswahlkampfes. Sollte es nicht gelingen, das neue Gesetz noch in dieser Legislaturperiode zu verabschieden, würde zunächst erst einmal das bisherige Ordnungswidrigkeitenrecht auch zur Sanktionierung von Unternehmensstraftaten weitergelten. Und so mancher Wirtschaftsvertreter oder Rechtsanwalt meint, dass das nicht die schlechteste Lösung wäre.