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"Unterricht stärker individualisieren"

Angesichts des neuen PISA-Berichts zu den Unterschieden in den Schulleistungen bei Jungen und Mädchen hat der Erziehungswissenschaftler Hans Brügelmann dessen ungeachtet eine Beibehaltung der Koedukation gefordert. Der Unterricht sollte jedoch stärker auf die einzelnen Schüler zugeschnitten werden, so Brügelmann.

Hans Brügelmann im Gespräch mit Christoph Heinemann |
    Christoph Heinemann: Werden Mädchen und Jungen in der Schule gleichermaßen auf das Leben vorbereitet? Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat die schulischen Leistungen 15 Jahre alter Mädchen und Jungen untersucht. Ergebnis: Leistungsunterschiede zwischen Jungen und Mädchen nehmen im Laufe der Schulkarriere zu. Gegen Ende der Grundschulzeit erzielen sie in Mathematik bei internationalen Vergleichsstudien fast die gleichen Ergebnisse, im Alter von 15 jedoch ein anderes Bild. Hier schneiden die Jungen in fast allen untersuchten Ländern besser ab als die Mädchen. Beim Lesen sind Mädchen allerdings bereits in der Grundschule den Jungen überlegen und dieser Unterschied verstärkt sich der Studie nach dann in der weiteren Schullaufbahn. Am Telefon ist der Erziehungswissenschaftler Professor Hans Brügelmann von der Universität Siegen. Guten Tag!

    Hans Brügelmann: Ich grüße Sie, Herr Heinemann.

    Heinemann: Herr Brügelmann, in der bildungspolitischen Diskussion wurden in der letzten Zeit die Jungen immer als die Verlierer des Systems dargestellt. Ist diese Befürchtung nun vom Tisch?

    Brügelmann: Nein, das ist sie nicht, denn wenn man an ganz verschiedenen Punkten im System guckt, von der Einschulung angefangen über das Sitzenbleiben, über die Abschulung in die Sonderschule, Verteilung auf die verschiedenen Schularten in der Sekundarstufe, stellen wir immer wieder fest, dass die Jungen im Vergleich zu den Mädchen schlechter abschneiden. Von daher haben wir da ein Grundproblem, wenn man nur diese Kategorie Geschlecht nimmt.

    Heinemann: Doch aber laut Studie sind die gar nicht so schlecht, die Jungs?

    Brügelmann: Na ja, der Punkt ist immer, was genau wird angeguckt. Es ist zum Beispiel so: Wenn wir uns beim Lesen angucken Sachtexte versus Erzählungen, dann stellen wir fest, dass die Mädchen beim Lesen in den Erzählungen deutlich besser sind, dass aber bei den Sachtexten zum Beispiel die Differenz gering ist. Wenn jetzt aber in der Schule in den Lesebüchern fast nur Erzählungen sind, dann führt das im Effekt dazu, dass die Mädchen mit dem Bereich, in dem sie stark sind, dann generell im Lesen besser abschneiden. Umgekehrt haben wir das zum Teil dann in Mathematik, dass es bei bestimmten Aufgabentypen eben eine Benachteiligung auch von Mädchen gibt. Würde man im Unterricht sich stärker zum Beispiel auf anwendungsorientierte Mathematik, die Bedeutung für den Alltag hat, konzentrieren, wäre die Differenz nicht so groß.

    Heinemann: Was folgt daraus jetzt für die Schulbücher?

    Brügelmann: Man könnte sagen, wir machen getrennte Schulbücher, aber der zweite interessante Befund ist ja, wie groß die Streuung innerhalb der Geschlechter ist. Das heißt, es gibt eine ganz große Überlappung zwischen beiden Gruppen, obwohl die Mittelwerte sich unterscheiden lassen. Deshalb fände ich es ganz fatal, wenn man jetzt getrennte Schulbücher oder sogar getrennten Unterricht machen würde - es ist ja die Rede davon, dass man vielleicht die Koedukation wieder abschaffen sollte -, denn dann würden ja Jungen, die gerne Erzählungen lesen, oder Mädchen, die gerne Sachtexte lesen, wiederum benachteiligt. Wir brauchen also eher einen Unterricht, der sich öffnet für die besonderen Interessen und Voraussetzungen der einzelnen Schüler, und dann spielt das Geschlecht nicht mehr so eine große Rolle, sondern dann ist wichtig, dass die Möglichkeit besteht, selber zu wählen, worauf will ich mich als Schüler im Unterricht konzentrieren.

    Heinemann: Man hört aber doch immer wieder die Behauptung, dass Mädchen, die mit Rabauken zusammen lernen müssen, in der Schule schüchterner seien.

    Brügelmann: Solche Effekte gibt es sicher. Es gibt auch umgekehrte, dass Jungen sich vielleicht im Sprachbereich dann nicht so nach vorne trauen oder auch in Kunst und Musik, weil sie dann sozusagen die Sorge haben, sie machen sich vor ihren Kumpels lächerlich. Das Interessante ist aber - und deshalb ist die OECD-Studie auch so bedeutsam -, wenn man in verschiedene Länder guckt, stellt man fest, dass dieser Vorteil der geschlechtergetrennten Erziehung in einem Land gegeben ist, im anderen Land nicht. Das heißt, man kann nicht generell sagen, es ist vorteilhaft, die Gruppen zu trennen, sondern es kommt sehr auf die konkrete Situation an und es gibt durchaus Länder - und Deutschland gehört zu diesen Ländern -, wo die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen vergleichsweise gering sind, obwohl sie gemeinsam unterrichtet werden.

    Heinemann: Und woran liegt das, dieser Unterschied zwischen den Ländern?

    Brügelmann: Das hat sicher was mit der Kultur zu tun, dass es in den verschiedenen Ländern unterschiedliche Traditionen gibt.

    Heinemann: Können Sie ein Beispiel nennen?

    Brügelmann: Es ist zum Beispiel in der Türkei so, dass die Mädchen nicht so stark profitieren von dieser Trennung, wie sie etwa in England profitieren. Von daher darf man solche Regeln oder solche Erfahrungen nicht verallgemeinern über verschiedene Länder hinweg. Ich denke, der große Vorteil des deutschen Systems ist, dass wir tatsächlich eine Tendenz dazu haben, den Unterricht stärker zu individualisieren, und damit entgehen wir diesem Problem, in den Gruppenkategorien die beiden gegeneinander auszuspielen, eher, als wenn wir jetzt hingehen und neue Institutionen schaffen.

    Heinemann: Entschuldigung! Das letzte habe ich jetzt nicht ganz verstanden. Was heißt, den Unterricht individualisieren?

    Brügelmann: Das bedeutet, wie ich vorhin angedeutet habe, dass etwa, wenn wir ein Rahmenthema haben, in Geschichte oder in Deutsch, die Schüler die Möglichkeit haben, selber zu bestimmen, welchen Aspekt sie bearbeiten wollen. Nehmen Sie mal an, sie nehmen Barockgedichte durch, warum dürfen die Schüler sich nicht auswählen, mit welchem Gedicht sie sich beschäftigen wollen; dann haben sie schon manche der Probleme, die sich daraus ergeben, dass sozusagen eine Aufgabe als typisch männlich oder typisch weiblich angesehen wird, nicht so gesehen wird. Sie haben eher die Chance, dass die Schüler von ihren Interessen her einsteigen können, und dann nivellieren sich auch diese Unterschiede eher.

    Heinemann: Ich erspare Ihnen jetzt die Frage, ob Sie uns ein typisch männliches oder ein typisch weibliches Barockgedicht rezitieren können. Das geht wahrscheinlich jetzt nicht so gut. Aber grundsätzlich: Was folgt noch mal aus dieser Studie aus Ihren Erkenntnissen für die grundsätzliche Frage Koedukation, gemeinsame Erziehung oder nicht?

    Brügelmann: Daraus folgt für mich Beibehaltung der Koedukation - allein schon deshalb, weil ja die beiden Gruppen auch lernen müssen, später in der Gesellschaft zusammenzuleben -, aber Sensibilität innerhalb der Schule dafür, dass es zu den Mechanismen kommen kann, die Sie genannt haben, Jungs verdrängen Mädchen im Technikunterricht, oder es ist umgekehrt für Jungs im Deutschunterricht schwierig, sich zu outen, dass sie auch Gefühle haben, also dass die Lehrer, wie man sagt, reflektiert mit der Koedukation umgehen und von daher aufmerksam sind, wo solche Probleme auftauchen können, und dem vorbauen.

    Heinemann: Der Erziehungswissenschaftler Professor Hans Brügelmann von der Universität Siegen. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.