Donnerstag, 18. April 2024

Archiv

Untersuchung der Mitgliederstruktur
Überraschende Erkenntnisse über die NSDAP

Der Politologe Jürgen Falter hat sich schon immer sehr dafür interessiert, was Menschen in den Sog von extremen politischen Strömungen treibt. So hat er unter anderem die Mitglieder-, Wähler- und Anhänger-Struktur von NPD und Republikanern in der Bundesrepublik ergründet. Nun hat er seine frühere Forschung zu Mitgliedern der NSDAP wieder aufgegriffen - mit überraschenden Ergebnissen.

Von Alfried Schmitz | 29.01.2015
    "Wieso kann in einem so hochzivilisierten Land wie dem Deutschen Reich der damaligen Zeit, eine Partei wie die NSDAP 17,3 Millionen Stimmen im Jahr 1933 bekommen und vorher 14 Millionen, wie kann das passieren?"
    Am 24. Februar 1920 wurde die NSDAP im Münchner Hofbräuhaus gegründet. Adolf Hitler, einer der Hauptinitiatoren und ab 1921 Parteivorsitzender, war auch entscheidend für das 25-Punkte-Parteiprogramm verantwortlich. Hautpunkte waren: Aufhebung des Versailler Friedensvertrages, Entzug der deutschen Staatsbürgerschaft von Juden und die sogenannte "Stärkung der Volksgemeinschaft".
    Bereits in den 1980ern hatte der Politologe Jürgen Falter damit begonnen, die Motivation von NSDAP-Wählern zu analysieren. Seine Ergebnisse flossen damals in sein Buch "Hitlers Wähler" ein. 1991 begann er damit, auch die Mitgliederstruktur der NSDAP wissenschaftlich zu untersuchen. Falter, der bis zu seiner Pensionierung 2012 an der Mainzer Johannes Gutenberg Universität den Lehrstuhl für Innenpolitik und Politische Soziologie innehatte, ist heute als Forschungsprofessor tätig. Mit seinem aktuellen Projekt greift er seine Arbeit der 1980er und 1990er wieder auf.
    "Ich habe 1989 und 1990 zusammen mit einem amerikanischen Kollegen von der University of Minnesota damals im Berlin Document Center, das von den USA geführt worden ist und in dem die NSDAP-Massenakten gelandet waren, aus der erhalten gebliebenen NSDAP-Mitgliederkartei eine sehr große Stichprobe für die Jahre 1925 bis 1933 ziehen können. Und jetzt, wo ich wieder viel Zeit für Forschung habe und eine Forschungsprofessor finanziert bekomme vom Land Rheinland-Pfalz, habe ich mir gesagt, jetzt mache ich auch den zweiten Teil, die Jahre von 1934 bis 1945 und da habe ich wieder eine große Stichprobe gezogen."
    Datensatz mit 50.000 Fällen als Grundlage
    Professor Falter möchte die Lücke in seiner bisherigen Forschungsarbeit schließen, möchte die Erkenntnisse aus früheren Studien ergänzen und ausbauen. Heute bildet ein rund 50.000 Fälle starker Datensatz die Grundlage seines Projektes. Dieser Datensatz umfasst fast alle auf den NSDAP-Mitgliederkarteikarten enthaltenen Informationen. In der internationalen NSDAP-Forschung ist das eine einzigartige Ausgangsbasis für seine Arbeit, die durch einen besonderen Aspekt begünstigt wird.
    "Die NSDAP war eine sehr bürokratische Partei, die eigentlich vom Jahr 1925 an Buch geführt hat über ihre Mitglieder. Und diese Mitgliederkartei ist bis 1945 wirklich minutiös geführt worden und hat den Krieg zum großen Teil überlebt."
    Von ehemals 20 Millionen Karteien sind immerhin zwölf Millionen übrig geblieben aus denen Professor Falter und sein Team Stichproben ziehen, um statistische Werte über folgende Punkte zu erhalten:
    "Name und Vorname, über den sich das Geschlecht erschließen lässt, das Alter, das Eintrittsdatum, der Geburtsort, der Wohnort, spätere Wohnorte, die Ortgruppe, der Gau, Beruf, ob man ausgetreten ist, ob man wieder eingetreten ist. Dann im Krieg, ob man gefallen ist oder nicht gefallen ist. Das sind alles Informationen, die wir dann in dieser großen, großen Stichprobe aufgenommen haben."
    Bei der statistischen Auswertung der NSDAP-Mitgliederdateien ergab sich eine sehr interessante Besonderheit, die vom Wissenschaftsteam um Professor Falter eine ganz besondere Vorgehensweise erforderte.
    "Viele Leute wissen das gar nicht. Die Partei war nicht offen für normale Eintritte. Außer in ganz bestimmten Jahren. Nach 1933 ist die zugemacht worden. 1934, 1935, 1936 konnten nur ganz, ganz wenige in die Partei rein und deswegen haben wir dort sogenannten disproportionale Stichproben gezogen, also mehr Fälle gezogen, als es eigentlich sein sollten, damit wir über diese Jahre auch etwas sagen können."
    Einigen deutschen Ländern war die NSDAP schon kurz nach ihrer Gründung suspekt. 1922 ergingen in Baden, Thüringen, Braunschweig, Hamburg, Preußen und Mecklenburg-Vorpommern Verbote. 1923 erfolgte sogar ein Reichsverbot, denn Adolf Hitler hatte in der bayerischen Landeshauptstadt einen Putschversuch unternommen. 1925 wurde die NSDAP von Adolf Hitler neu gegründet, nachdem dieser seine Festungshaft wegen Hochverrats verbüßt hatte.
    Als Elitepartei gedacht
    Die NSDAP wollte keine Massenpartei, keine Volkspartei im herkömmlichen Sinne sein, sondern eine Kaderpartei. Eine, in Hitlers Sinne, Elitepartei, auf deren Mitglieder er sich hundertprozentig verlassen konnte.
    "Das schreibt schon Adolf Hitler in ‚Mein Kampf'. Als Hitler die Wahlen 1933 gewonnen hatte am 5. März und dann das Ermächtigungsgesetz am 23. März durchgekommen ist, da ist ein Riesenansturm auf die Partei erfolgt von etwa 800.000 bis 900.000 Mitgliedern, das hat sich auf zweieinhalb Millionen gesteigert innerhalb von zwei, drei Monaten. Und da waren eben sehr viele Opportunisten dabei und die wollte man raushalten, die wollte man nicht in der Partei haben. Deshalb hat man sie zum 1. Mai 1933 wieder zugemacht und zugelassen bis 1937. Da wurde sie kurz aufgemacht. Dann wieder zugemacht. 1939 wieder aufgemacht und dann mit dem Beginn des Weltkriegs wieder zugemacht, sodass nur ganz bestimmte Leute in die Partei aufgenommen worden sind."
    Die Auswertung der statistischen Daten und die anschließende Analyse hat zu vielen interessanten Ergebnissen geführt. So hat das Team um Professor Falter herausgefunden, dass die NSDAP in überwiegend katholischen Gebieten weniger Zulauf hatte als in protestantisch geprägten. In Großstädten waren in der Relation weniger Eintritte zu verzeichnen als auf dem Land. Und auch in Bezug auf die Zugehörigkeit zu bestimmten Sozialschichten und Berufsgruppen gab es ein unerwartetes Resultat.
    "Der Arbeiteranteil war sehr viel größer, als wir vermutet hatten und als in der Öffentlichkeit, im historischen Schrifttum vermutet wird. In den Jahren vor der sogenannten Machtergreifung, also 1933, waren es vierzig Prozent der Neueintretenden, die einen Arbeiterberuf ausübten und nach 1933 waren es ebenfalls an die vierzig Prozent. Das ist ein wichtiges Ergebnis, denn es zeigt nämlich, dass es der NSDAP eben doch gelungen ist, weit über die Mittelschicht hinaus, Anhänger zu finden.
    Die Probleme der Weltwirtschaftskrise und die Auflösung des Reichstags durch den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg verhalfen den Nationalsozialisten dazu, ihre politische Position stetig zu verbessern. Bei den Wahlen erhielten sie immer mehr Stimmen. 1933 war es dann soweit. Durch das Ermächtigungsgesetz wurde es Adolf Hitler möglich gemacht, seine politische Konkurrenz komplett auszuschalten. Die NSDAP wurde, gesetzlich legitimiert, zur einzigen Partei im Reich und Adolf Hitler zum Alleinherrscher. Bei seinen Forschungen, wer und warum in die NSDAP eintrat, untersuchte Professor Falter auch den Frauenanteil der NSDAP-Mitglieder und stellte Erstaunliches fest.
    "Nur etwa zwischen fünf und sieben Prozent der in die NSDAP-Eintretenden zwischen 1925 und 1932 waren Frauen. 1933 fällt das noch einmal, wird noch einmal weniger, um dann allmählich anzusteigen. Und im Krieg steigt der Frauenanteil unter den Neueintretenden auf 30 Prozent. Warum? – Die Männer waren im Feld, Frauen haben andere Rollen im Krieg übernehmen müssen, sind sehr viel selbstständiger geworden und sind dann auch stärker in die Partei gegangen."
    Was das Team um Professor Falter ebenfalls in Erstaunen versetzte, ist die hohe Zahl an Parteiaustritten. In den ersten Jahren nach der Gründung waren es nicht weniger als 70 Prozent, die der NSDAP den Rücken kehrten. Insgesamt hat Professor Falter in seinen Untersuchungen eine enorm hohe Mitgliedschafts-Fluktuation festgestellt.
    "Das heißt, die Partei war nicht so stabil, wie man sich das vorstellen könnte."