Ein Wohnviertel in Berlin-Charlottenburg. Nichts, wirklich nichts erinnert daran, dass sich hier vor 125 Jahren der "Sportpark Kurfürstendamm" befand. Er umfasste eine Radrennbahn und den ersten abgeschlossenen Fußballplatz in Berlin – den "Athletik-Sportplatz".
"Also das muss eine ganz imposante Anlage gewesen sein, auch ganz ungewöhnlich für die damalige Zeit schon mit einer überdachten Tribüne dabei, vor allen Dingen, weil das auch ein Rasenplatz war, das gab es sonst kaum", erklärt Fußball-Historiker und Autor Bernd-M. Beyer. "Das war schon ein ziemlicher Fortschritt, und nicht von ungefähr ist dieser Platz dann für diese Ur-Länderspiele verwendet worden."
Deutsche Mannschaft mit Spielern aus Süddeutschland und Berlin
Etwa 2.000 Zuschauer kommen zu den beiden Begegnungen am 23. und 24. November 1899. Ein absolutes Novum – der Fußball im Kaiserreich steckt noch in den Kinderschuhen. Die deutsche Auswahl setzt sich zusammen aus Spielern aus Süddeutschland und Berlin. Der Gegner kommt aus dem Mutterland des Fußballs, aus England.
Beyer: "Also so weit man das heute rekonstruieren kann, es gibt ja keine Aufnahmen von diesen Spielen, ist es so, dass die Engländer zum einen natürlich technisch viel stärker waren in der Ballbehandlung, vor allen Dingen aber auch in der Spielübersicht."
Es ist das erste Mal, dass die Football Association eine Auswahl ihrer besten Kicker aufs europäische Festland entsendet. "Die Deutschen neigten dazu, im Grunde wie heute U7- oder U8-Mannschaften, immer so schwarmartig hinter dem Ball herzurennen, während die Engländer auch schon antizipieren konnten. ‚Wo soll der Ball hin? Wo platziere ich mich gut, um eine Flanke anzunehmen‘? Das waren Dinge, die die Deutschen tatsächlich erst noch lernen mussten", erklärte Beyer.
Spiele nicht in offizieller Länderspiel-Statistik
Entsprechend klar verliert die deutsche Auswahl gegen die englische: 2:13 und 2:10. Es folgen zwei weitere Spiele in Prag und Karlsruhe – 0:8 und 0:7. In der offiziellen Länderspiel-Statistik des Deutschen Fußballbundes tauchen die vier Spiele nicht auf – der DFB wird erst zwei Monate später gegründet, am 28. Januar 1900.
"Da spielte also Lehrmeister gegen Lehrling, aber das war im Grunde genommen auch genau das, was beabsichtigt war: Man wollte lernen von den Engländern und man wollte den Zuschauern demonstrieren, welches großartige Potenzial in diesem Spiel eigentlich steckt", so Beyer.
"Man" – das ist einer der Fußball-Pioniere im deutschen Kaiserreich, der als erster die Kraft des Fußballs erkennt, und das Potential die Massen zu begeistern. "Ja, das hängt eigentlich mit einer einzigen Person zusammen: Walther Bensemann."
Student aus begütertem Hause, der zu dem Zeitpunkt schon mehrere Vereine in Süddeutschland gegründet hat. Laut Bernd-M. Beyer, der 2019 eine Biografie über Bensemann veröffentlicht, selbstbewusst, sprachgewandt, perfekte Englischkenntnisse, Kosmopolit. Seine Vision: Fußball als Mittel der Völkerverständigung. Und so organisiert er diese "Ur-Länderspiele". Praktisch im Alleingang schafft er es, gegen Zusage einer Garantiesumme aus eigener Tasche in Höhe von 2.000 Goldmark die Engländer erstmals von der Insel zu holen. Eine sportpolitische Sensation.
Internationaler Austausch statt nationalistischer Ideale
Beyer: "Damals gab es ja eigentlich einen kulturellen oder sportlichen Austausch zwischen den Ländern überhaupt nicht, über die Grenzen hinweg existierte da kein Verkehr, weder im Sport noch sonst wie, es gab keinen Schüleraustausch, es gab keine Städtepartnerschaften."
Es dominieren nationalistische Ideale. Walther Bensemann hingegen setzt auf internationalen Austausch: "Er sah halt mit Hilfe des Fußballs die Möglichkeit, Grenzen zu überschreiten, die Leute zusammenzubringen und Vorurteile abzubauen, damals war es wirklich ein neuer und durchaus umstrittener Gedanke."
Die Widerstände gegen sein Engagement sind groß. Einflussreiche nationalistische Kreise im Kaiserreich wollen ihn stoppen. Sie argumentieren, der Fußball müsse sich zunächst etablieren, bevor man sich mit ausländischen Gegnern messen und der Gefahr einer schmachvollen Niederlage aussetzen könne. Im Vorfeld der Ur-Länderspiele schließt ihn der Süddeutsche Fußball-Verband aus und kündigt weitere Sanktionen an.
"Der Verband ist harsch vorgegangen, er hat allen Spielern, die gegen die Engländer antreten würden, damit gedroht, dass sie aus dem Verband ausgeschlossen werden, womit sie ihre Spielerlaubnis verloren hätten, also auch für normale Ligaspiele."
"Das Eis gebrochen"
Doch so weit kommt es nicht. Den Zuschauern gefällt Bensemanns Idee vom Fußball. "Der Verband musste dann auch einsehen, wie ungeheuer populär diese Spiele waren, welches Aufsehen sie erregt haben, und es war danach einfach unmöglich, die Spieler zu sanktionieren. Also ich denke, sie haben so ein bisschen das Eis gebrochen sowohl für den Fußball als auch für den Gedanken, internationale Spiele zu machen."
"Es ist einfach gut, dass Walther Bensemann wieder in unser Bewusstsein kommt", findet auch Freiburgs Ex-Trainer Christian Streich. "Weil: er hat ganz viele Vereine gegründet, er hat für ganz viele internationale Begegnungen gesorgt, als das noch vollständig unüblich war, um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert diese Ur-Länderspiele mitorganisiert, der ganz viel bewegt hat im deutschen Fußball. Der den Fußball in Deutschland hoffähig gemacht hat."
Streich hat in diesem Jahr den Walther-Bensemann-Preis erhalten. Einen Preis, den die Deutsche Akademie für Fußball-Kultur seit 2006 vergibt in Erinnerung an Walther Bensemann als Gründer der Fußball-Zeitschrift "Kicker". 1920 ist das gewesen.
Mit dem Preis werden Menschen geehrt, die Herausragendes für den Fußball geleistet haben und dabei mitunter gegen den Strom geschwommen sind. Wie eben Walther Bensemann, als er vor 125 Jahren die Ur-Länderspiele organisierte.