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"Ureuropäische Fragen"

Ich würde sagen, ich bin Europäer, ein Europäer vom Rande. Ich habe meine Kindheit in Istanbul verbracht, auf der asiatischen Seite, mit dem Blick auf Europa. Aber Europa war immer präsent - als Idee, als Lebensstil, als Auseinandersetzungspunkt, auch in Gegnerschaft, wenn man die türkische Geschichte anschaut.

Von Zafer Senocak | 22.05.2009
    Europa war im Grunde genommen auch in meiner Kindheit immer präsent, und Europa war im Grunde genommen nicht weit weg. Wenn man die Geschichte Istanbuls anschaut, diese kosmopolitische Stadt, mit sehr vielen Menschen, die Italiener waren, Griechen, Armenier, verschiedene Nationalitäten, Händler. Europa war im Grunde genommen ein Kommen und Gehen für mich. Und das hat sich ja dann in meinem Leben dann auch bestätigt durch die Auswanderung nach Deutschland mit meinen Eltern. Und die Auswanderung war ja nicht, dass man dann die Türkei verlassen hat, sondern das war auch wieder ein Kommen und Gehen. Das heißt, diese Linien, diese Grenzen, habe ich eigentlich als sehr nah empfunden, als etwas, was man überbrückt.

    Was ich schätze, ist schon, dass ich in relativer Freiheit, in noch nie da gewesener Freiheit schreiben und arbeiten kann. Das ist für einen Schriftsteller, der aus der Türkei stammt, nicht unbedingt selbstverständlich, gerade wenn man die Generation vor mir anschaut.

    Es ist hart erarbeitet, was wir im Moment erreicht haben. Es wird zwar viel gelästert darüber und es gibt so eine Art Europamüdigkeit, aber letztlich, wenn Sie mal anschauen, was seit 1945 auf dem Kontinent passiert ist und dann nach '89, das ist schon eine Erfolgsgeschichte sondergleichen.

    Ich würde einem Kinde - ich habe leider keine Kinder, aber ich bin öfters in Schulen und bin öfters mit heranwachsenden Menschen zusammen, Jugendlichen - ich würde einem Kinde Europa nicht definieren, weil diese Definition unvollkommen sein würde, sondern ich würde Europa versuchen über Reisen darzustellen. Ich glaube, man kann Europa erst mit Reisen, mit verschiedenen Reisen, auch mit Reisen über Europa hinaus verstehen. Es gibt natürlich auch noch ein Europa in Erzählungen, in Geschichten, in Märchen. Das wird ja sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen. Ich glaube, wir leben auch sehr viel da drin. Also Andersens Märchen oder Grimm, damit bin ich ja auch aufgewachsen, in der Türkei übrigens schon. Da sieht man schon, dass da ein Zusammenhang entsteht, der sozusagen über die Erzählstränge weitergeliefert wird.

    Nach '45 war ja die Grundidee, eine Friedenszone zu schaffen, sehr verständlich für diese Generation, auf dem Trümmerfeld Europa. Das war, glaube ich, der große Antrieb dieser europäischen Idee. Das wurde dann sehr lange überschattet durch den Kalten Krieg. Und nach '89 gab es eine neue Chance im Grunde genommen auf dem Kontinent, durch die Überwindung des Kalten Krieges diese Friedenszone zu erweitern. Da sind wir leider nur teilweise erfolgreich. Ich glaube, dass wir auf dem Balkan, in Teilen Osteuropas, auf dem Gebiete der Türkei, im Kaukasus noch großen, großen Herausforderungen gegenüberstehen. Und das ist auch Europa. Deswegen ist diese ganze Türkei-Diskussion für mich so unsinnig. Das sind ureuropäische Fragen. Die Geschichte der Türkei, des osmanischen Reiches ist eng mit Europa verknüpft. Und die Überwindung des Konflikts, der Gegnerschaft ist ja gerade die europäische Idee. Wenn wir das aufgeben, geben wir die europäische Idee auf. Und da sehe ich sozusagen im Moment eine Erschöpfung und auch ein "Ins-Leichte-Schwanken". Also man sagt irgendwie, ja, wir sind erschöpft, wir sollten jetzt alles mal stoppen. Was heißt das eigentlich? Das heißt, wir wollen nicht arbeiten, wir wollen nicht denken, wir wollen nicht weitermachen ? So kann man keine Politik betreiben. Und das strahlt Europa ein bisschen aus.

    Auf der anderen Seite habe ich sehr viel Verständnis für Menschen, die sagen, diese europäische Idee ist mir zu abstrakt geworden, ich verstehe das gar nicht mehr, was da in Brüssel entschieden wird. Wer entscheidet da überhaupt? Habe ich diese Leute gewählt? Wie funktioniert das? Und das muss noch viel transparenter werden. Und ich habe das Gefühl, Europa hat sich in der letzten Zeit, wenn man an die Glühbirnen und an die Zigaretten denkt, in Kleinigkeiten verstrickt.

    Die Brücke, die Asien und Europa verbindet, das ist für mich Istanbul, die Bosporus-Brücke, die '73 gebaut worden ist, zum 50. Jahrestag der türkischen Republik. Ein hohes Symbol. Ein hohes Symbol, weil diese Republik sich ja sozusagen als europäisch verstanden hat. Es ist ein Zivilisationsprojekt. Ein Projekt, das Menschen das Leben sozusagen lebenswerter gestalten lässt, den Gedanken freieren Raum gibt, Rechtssicherheit gibt. Das sind doch die entscheidenden europäischen Grundwerte. Und für mich symbolisiert werden diese Grundwerte genau an dieser Scheidelinie zwischen Europa und Asien, geografisch gesehen, an dieser Brücke sichtbar.

    Kurzbiografie:
    Zafer Senocak, geboren 1961 in Ankara, wuchs in Istanbul und ab 1970 in München auf. Dort studierte er Germanistik, Politik und Philosophie. Seit 1979 veröffentlicht Senocak Gedichte, Essays und Prosa in deutscher Sprache zum Thema Orient-Okzident, zu den deutsch-türkischen Kulturbeziehungen und zur Interkulturalität. Außerdem war er Mitbegründer und Mitherausgeber der mehrsprachigen Literaturzeitschrift "Sirene" und übersetzt seit 1985 türkische Autoren. 1984 erhielt Senocak ein Literaturstipendium der Stadt München, 1988 den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis und seitdem weitere Stipendien im In- und Ausland. Unter anderem lehrte Senocak 2003 an der Universität in Berkeley und 2007 als "poet in residence" an der Universität Duisburg-Essen.
    Senocaks literarische Werke reichen von Gedichtbänden wie "Fernwehanstalten" (1994) und Prosa wie die "Berliner Tetralogie" bestehend aus "Der Mann im Unterhemd" (1995), "Die Prärie" (1997), "Gefährliche Verwandtschaft" (1998) und "Der Erottomane. Ein Findelbuch" (1999) bis zu seinen Essays, unter anderem gesammelt in "War Hitler Araber? Irreführungen an den Rand Europas" (1994). Seine Arbeiten wurden in mehrere Sprachen übersetzt, unter anderem ins Türkische, Griechische, Französische und Englische, und vielfach ausgezeichnet. Zuletzt erschienen "Das Land hinter den Buchstaben. Deutschland und der Islam im Umbruch" (2006) und die Gedichtsammlungen "futuristen epilog" (mit Berkan Karpat) und "Landstimmung" (beide 2008). Zafer Senocak lebt seit 1990 in Berlin.


    Mehr zur Europawahl finden Sie auf den Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung.