Freitag, 19. April 2024

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Urteil im Halle-Prozess
"Polizei war recht ahnungslos und hat zum Teil gleichgültig ermittelt"

Das Urteil gegen den Attentäter von Halle sei eine große Erleichterung, sagte die Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung, Anetta Kahane, im Dlf. Im Prozess sei allerdings deutlich geworden, dass sowohl in der Zivilgesellschaft als auch bei der Polizei noch viel Aufklärungsarbeit geleistet werden müsse.

Anetta Kahane im Gespräch mit Friedbert Meurer | 21.12.2020
Ein Jahr nach dem rechtsterroristischen Anschlag in Halle liegen Gedenkränze vor dem Döner-Imbiss, in dem der Attentäter einen Mensch tötete.
Ein Jahr nach dem rechtsterroristischen Anschlag in Halle liegen Gedenkränze vor dem Döner-Imbiss, in dem der Attentäter einen Mensch tötete (picture alliance/dpa/Jan Woitas)
Am 9. Oktober 2019 hat der 28-jährige Stephan B. schwer bewaffnet versucht, in einer Synagoge in Halle ein Massaker anzurichten. Doch er schaffte es nicht in das Gotteshaus, erschoss eine Passantin und danach einen Gast eines Döner-Imbiss.
Am Montag (21. Dezember) ist Stephan B. zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt worden. Das verkündete das Naumburger Oberlandesgericht im Magdeburger Landgericht, wo der Prozess aus Platzgründen stattgefunden hat. "Die besondere Schwere der Schuld des Angeklagten wird festgestellt", sagte die Vorsitzende Richterin des Ersten Strafsenats, Ursula Mertens.
Über das Urteil und die gesellschaftliche Wirkung davon haben wir mit Anetta Kahane gesprochen. Sie ist Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung – einer Stiftung, die sich unter anderem um Opfer rechtsradikaler Extremisten kümmert.
Friedbert Meurer: Was sagen Sie zum Urteil?
Anetta Kahane: Wir haben das alle mit großer Erleichterung aufgenommen, weil das ist das, was die Staatsanwaltschaft gefordert hat. Das ist das, was die Verteidiger gefordert haben. Und wir sind sehr froh, dass das Gericht und Frau Mertens diesem Ansinnen gefolgt ist.
Anetta Kahane, Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung
Anetta Kahane, Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung (picture alliance/dpa/Michael Kappeler)
Meurer: Sie sind ja selbst die Tochter zweier jüdischer Eltern, die aus Nazi-Deutschland fliehen mussten. Was haben Sie damals gedacht, als Sie vor einem Jahr, im Oktober 2019, von diesem Anschlag hörten und von dem Versuch, 50 Betende in einer Synagoge umzubringen?
Kahane: Ich war in dem Moment nicht in Deutschland. Ich war in Amerika. Es war so ein bodenloser Schock. Sie können sich das gar nicht vorstellen. Ich war so ins Mark getroffen und es ist ganz egal, wer umgekommen ist oder wie viele umgekommen sind. Aber dass es möglich ist, dass in Deutschland so jemand das plant und das will und so eine infernalische Bosheit entwickelt, dass sie tatsächlich massenhaft Leute umbringen wollen, weil sie einer bestimmten Religion angehören, das hat mich sehr, sehr tief getroffen – auch als Jüdin natürlich. Ich war in Los Angeles und ich bin vollkommen verzweifelt da herumgelaufen, habe die ganze Zeit geweint und es war ein sehr, sehr tiefer Einschnitt in mein Befinden. Ich war sehr unglücklich, dass ich nicht hier war und das nicht teilen konnte mit anderen Leuten.

"Hat uns sehr schockiert"

Meurer: Das war für Sie eine völlig neue Qualität? Sie hätten das nicht für möglich gehalten?
Kahane: Nein! Wir beschäftigen uns mit Antisemitismus. Wir recherchieren dazu. Wir nehmen natürlich jede Menge Vorkommnisse wahr und auch Hassverbrechen und so weiter. Das ist etwas, was wir jeden Tag erleben. Das erlebe ich auch persönlich. Aber es ist noch mal was anderes, wenn es passiert. Das muss man einfach so sagen.
Nicht, dass es jetzt so überraschend gewesen wäre, aber in der Konkretheit und in der mörderischen Brisanz war das schon was anderes, als sich nur vorzustellen, ja, ja, es ist schlimm in Deutschland. Dass da jemand hingeht und versucht, in die Synagoge einzudringen und die Leute umzubringen, so wie das in Christchurch passiert ist, das hat uns sehr schockiert.
09.10.2020, Sachsen-Anhalt, Halle (Saale): Ein Mann steht während der Schweigeminute 12:01 Uhr zum Gedenken der Opfer des Terroranschlags von Halle/Saale vor der Synagoge. Zu dieser Zeit fielen die ersten Schüsse auf das jüdische Gotteshaus. Ein Jahr nach dem rechtsterroristischen Anschlag am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur in Halle wird mit Veranstaltungen und Gebeten der Opfer gedacht. Am 09. Oktober 2019 hatte ein schwer bewaffneter Rechtsextremist versucht, die Synagoge zu stürmen und ein Massaker unter 52 Besuchern anzurichten. Als ihm das nicht gelang, erschoss er eine Passantin und in einem Dönerimbiss einen jungen Mann. Foto: Hendrik Schmidt/dpa-Zentralbild/dpa | Verwendung weltweit
Ein Jahr nach dem Anschlag – Was sich in Halle verändert hat und was nicht
Unser Korrespondent hat beobachtet, was sich nach dem antisemitischen Anschlag auf die Synagoge in Halle gewandelt hat und was auf erschreckende Weise gleichgeblieben ist.
Meurer: Im Prozessverlauf ist wohl nicht sehr viel über die Motive bekannt geworden. Aber was man weiß ist, dass der Täter wohl erst vorhatte, Muslime anzugreifen, und dann hat er lieber die Synagoge angegriffen, weil er da irgendeinen Zusammenhang sieht. Können Sie dieser Logik folgen?
Kahane: Natürlich. Ich meine, es ist immer so: Das eine schließt das andere nicht aus. Dieses White Supremacy, diese toxische Männlichkeit, alle diese Sachen, die man ja auch herausgefunden hat, denen er anhing, die ist wahlweise gegen Muslime, gegen Migranten, gegen Schwarze, gegen politische Gegner, gegen Homosexuelle, gegen Frauen und gegen Juden. Das ist eine Aufzählung, wobei der Kern, dieser antisemitische Kern in der rechtsextremen Ideologie immer eingepflanzt ist. Das Judentum wird ja doch als ein großer Feind des Völkischen wahrgenommen und wenn man das Völkische gut findet, dann hat man den Antisemitismus gratis. Insofern schließt sich das nicht aus, weil Muslime sind auch "Fremdartige", und insofern ist das beides Teil dieses Syndroms.

"Alle rechtsstaatlichen Mittel nutzen"

Meurer: Wie kann man diese Entwicklung stoppen? Den Verfassungsschutz mehr beobachten lassen?
Kahane: Ja, natürlich. Man muss natürlich alle rechtsstaatlichen Mittel nutzen. Ich bin immer ein sehr großer Fan davon. Wir haben ja auch gesehen, dass bei den Ermittlungen die Polizei sich als recht ahnungslos rausgestellt hat, zum Teil auch sehr gleichgültig war. Das ist auch vor Gericht noch mal deutlich geworden. Das hat viele der Nebenkläger auch sehr irritiert.
Meurer: An welchem Punkt gleichgültig?
Kahane: Na ja, was die Ermittlungen betrifft, die Art der Aussagen, die Art, darüber zu reden. Es gab da einige Äußerungen, die wirklich schockierend waren. Die Art, die Verantwortung abzuwehren und zu sagen, na ja, wieso sollen wir das wissen, wer weiß denn, was da für Feiertage sind, das gehört nicht in unsere Zuständigkeit oder solche Sachen. Die Kälte, mit der das auch ermittelt wurde, wenig Engagement, das wurde von vielen der Nebenkläger sehr, sehr kritisiert. Es scheint so zu sein, dass man sowohl in der Zivilgesellschaft als auch in den öffentlichen Strukturen, bei der Polizei, den Staatsanwaltschaften und so weiter, noch eine Menge Aufklärungsarbeit leisten muss.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.